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Workshop an der China Universität für Politik und Rechtswissenschaften
Untersuchungshaft im deutschen und chinesischen Strafprozess

Die Untersuchungshaft ist ein sehr sensibles Thema, da sie zwar de facto einer Freiheitsstrafe entspricht, jedoch noch vor einer Straffeststellung verhängt wird. Dadurch ist es möglich, dass ein Unschuldiger seiner Freiheit beraubt wird. Dieser massive Eingriff in die persönliche Freiheit ist im Nachhinein auch durch monetäre Entschädigungen nicht aufzuwiegen.

 

Die deutschen Rechtsexperten Professor Bernd Schünemann von der Universität München, und Professor Holm Putzke, Universität Passau, traten in einem Workshop an der China Universität für Politik und Rechtswissenschaften in einen Dialog mit chinesischen Experten, um die jeweiligen Verfahren bezüglich der Untersuchungshaft in Deutschland und China besser zu verstehen und gegebenenfalls Denkanstöße anzubieten.

Untersuchungshaft in Deutschland

Professor Schünemann stellte in seinem Vortrag vor allem die rechtstaatlichen Problematiken der Untersuchungshaft („U-Haft“) dar. Dieses „hochgefährliche Instrument“ stellt jedes nationale Strafrecht vor Probleme, da vor dem Schuldspruch stets von der Unschuld des Angeklagten auszugehen ist. Der Freiheitsentzug vor einer eventuellen Schuldfeststellung widerspricht somit den aus dem Grundgesetz abgeleiteten Grundrechten. Jedoch dürfe diese Unschuldsvermutung natürlich wiederum nicht zum Erlassen jeglicher Strafverfolgung führen. Es gilt daher der Grundsatz, dass gegen einen Angeklagten, keine solchen Eingriffe vorgenommen werden dürfen, die gegen einen letztlich Unschuldigen unvertretbar wären. Der temporäre Freiheitsentzug wird demnach noch als „vertretbar“ gedeutet.

Das in den USA praktizierte „Bail or Jail“-System lehnt Schünemann als Alternativlösung ab, da es zum einen die finanziell besser Gestellten bevorzugt und zum anderen die U-Haft als Normalzustand dem Unschuldsprinzip zuwiderläuft. Genau wie in China ist die häufige Anwendung der U-Haft partiell dem schlecht entwickelten Meldesystem geschuldet.

Voraussetzungen für die Anordnung der U-Haft sind in Deutschland ein dringender Tatverdacht sowie – mit Ausnahme von Tötungsdelikten - ein konkreter Haftgrund, welcher unterschiedlich begründet werden kann:

  • Flucht oder Fluchtgefahr: 95% aller U-Haftbefehle basieren auf Fluchtgefahr, obwohl in dieser Argumentation zusätzliche zur ersten (Schuld-)Vermutung noch eine zweite ungesicherte Vermutung hinzukommt. Dem Angeklagten wird somit sowohl eine schuldhafte Tat als auch ein Fluchtgedanke unterstellt – beides kann sich letztlich als unwahr herausstellen. 
  • Verdunklungsgefahr: Hier wird angenommen, dass der Belastete zum Beispiel Beweismittel verschwinden lassen wird.
  • Wiederholungsgefahr: Auch hier wird der originären Schuldvermutung noch eine zweite Vermutung hinsichtlich der Wiederholung der (vermeintlichen) Erst-Tat hinzugefügt.



Professor Holm Putzke und Bernd Schünemann mit Ihren chinesischen Kollegen

Strenge Formalitäten

Bezüglich der Formalitäten gelten ebenfalls strenge Regeln. Der Haftbefehl kann ausschließlich durch einen Richter erfolgen. Aus seiner praktischen Erfahrung weiß Professor Schünemann jedoch zu berichten, dass dieser oftmals fast „blind“ den Antrag des Staatsanwalts unterschreibe, was die anvisierte Trennung von Legislative und Exekutive unterläuft. In der Folge muss der Beschuldigte binnen 24 Stunden festgenommen werden, über seine Rechte informiert werden, einen Rechtsanwalt hinzuziehen können, sowie die Möglichkeit erhalten, seine Verwandten zu informieren. Letzteres soll sicherstellen, dass kein Mensch einfach „verschwindet“.  

Einmal in U-Haft kann der Beschuldigte Beschwere einlegen, zunächst bei den zuständigen Amts-, Landes- und Oberlandesgerichten, in letzter Instanz jedoch auch beim Bundesverfassungsgericht. Ein einmal ausgesprochener Haftbefehl kann nur vom Richter zurückgenommen werden. Jedoch kann ein Tatverdächtiger nach Hinterlegung eines Geldbetrags oder einer Bürgschaft aus der Haft entlassen werden. Obwohl die U-Haft nur zur Sicherstellung der Beweisermittlung dient, ist sie zeitlich nicht befristet. Lediglich bei einer Überschreitung von sechs Monaten muss das Oberlandesgericht die Fortdauer genehmigen, wenn der besondere Umfang der Ermittlungen es erfordert.



Einer von Professor Schünemanns Hauptkritikpunkten an der U-Haft ist der, dass es heutzutage einfache Alternativen gibt, die jedoch oft ungenutzt bleiben. So kommen zum Beispiel weder die elektronische Fußfessel noch der Hausarrest häufig zum Einsatz. Als Grund vermutete Professor Schünemann, dass die U-Haft eventuell genutzt werde, um dem Beschuldigten ein Geständnis zu entlocken oder eine „pre-bargaining“-Vereinbarung zu erreichen. Professor Holm Putzke fügte hinzu, dass sich in vielen U-Haft-Fällen der Beschuldigte zwar in der Tat als schuldig herausstellt, sein Vergehen jedoch nicht mit einer Freiheitsstrafe sanktioniert wird.

Untersuchungshaft in China und Diskussion

Professor Chen Guangzhong und Professor Hong Daode von der China Universität für Politik und Rechtswissenschaften sowie Professor Si Huaqiang von der Pädagogischen Universität Ostchina stellten der deutschen Untersuchungshaft einige chinesische Besonderheiten gegenüber. Auch in China sei die U-Haft problematisch, da sie die richtige Balance zwischen einer effizienten Strafverfolgung und der Sicherstellung der Menschenwürde erfordere. Zu oft falle diese Balance dabei zum Nachteil der Menschenwürde aus. Die zwei Revisionen des Strafrechts 1996 und 2012 haben jedoch zu einer deutlichen Verbesserung und einem Rückgang der Anwendung der U-Haft vor der Hauptverhandlung von ca. 90% auf 50% geführt. Dies liegt vor allem daran, dass nun Hausarrest als Ersatz für die U-Haft gestattet ist. Vor allem für Jugendliche wird die U-Haft nur noch in seltenen Fällen eingesetzt.

Im Unterschied zu Deutschland kann in China auch der Staatsanwalt oder die Polizei einen Antrag stellen, also ein Arm der Exekutive. Bei sehr schwerwiegenden Fällen geht die Tendenz jedoch mittlerweile dahin, dass eine Staatsanwaltskommission gegründet wird oder gar eine noch höhere Instanz den Befehl aussprechen muss. Eine Pflichtverteidigung für den Beschuldigten existiert während der Untersuchung nicht. Zeitlich gibt es wie in Deutschland keine explizite Beschränkung für die Inhaftierung. 

Trotz der strafrechtlichen Reformen bleibt die U-Haft in China weiterhin ein gängiges Mittel in der Strafermittlung. Neben dem nicht hinreichend regulierten Wohnmeldesystem hängt dies laut Professor Si Huaqiang auch mit Chinas Geschichte und dem Verständnis von U-Haft zusammen. Die Praxis der Festsetzung eines Beschuldigten war in China schon spätestens zu Zeiten der Tang-Dynastie (617-907 n.Chr.) ein probates Mittel. Während es in Deutschland Sinn und Zweck der U-Haft ist, sicherzustellen, dass der Angeklagte vor Gericht erscheint, geht es in China auch darum, dem Angeklagten Geständnisse zu entlocken. Während in Deutschland die beiden parallel verlaufenden Vorgänge – die Ermittlung zum Finden der materiellen Wahrheit und die U-Haft zur Sicherstellung des Erscheinens des Beschuldigten - scharf voneinander getrennt werden, laufen die Vorgänge in China oftmals Hand in Hand. Die U-Haft wird als mehr als lediglich ein notwendiges Übel zur Durchführung der eigentlichen Ermittlung gesehen, sondern in manchen Fällen als Beitrag zur Ermittlung. Zudem dient die U-Haft in China auch dem Schutz der Gesellschaft, weshalb ein temporäres Einsperren auch möglich ist, wenn der Beschuldigte einen Punkt auf einer entsprechenden Kriterien-Liste erfüllt.  

Die anwesenden Diskutierenden kamen zu dem Schluss, dass China sich mit seinen Strafrechtsreformen auf einem guten Weg befinde, sein Rechtssystem noch gerechter zu gestalten. Allerdings existieren noch immer große Herausforderungen, die angegangen werden müssen. Der Austausch mit internationalen Partnern kann hierfür Denkanstöße geben.

 

Autor: Ole Engelhardt