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Deutsch-Chinesische Capacity-Building-Schulung für Frauen aus Armutskreisen der Provinz Gansu
Zusammenarbeit mit dem All-Chinesischen Frauenverband

Vom 25. bis 31. Oktober 2020 organisierte die Hanns-Seidel-Stiftung (HSS) gemeinsam mit dem All-Chinesischen Frauenverband (ACFV) für Frauen aus verarmten Kreisen in der westchinesischen Provinz Gansu eine „Deutsch-Chinesische

Capacity-Building-Schulung“ in Peking

 

Zur Förderung der Stellung der Frau in Familie, Gesellschaft und Beruf führen die HSS und der ACFV seit 2003 in strukturschwachen Regionen Westchinas Frauenförderungsprojekte durch. Aufbauend auf einem dreijährigen gemeinsamen Projekt zur beruflichen Qualifizierung von 225 von absoluter Armut betroffenen Frauen in den Jahren 2017-19 im Kreis Xihe in der strukturschwachen Provinz Gansu hatten im Zeitraum vom 25.-31. Oktober

45 Mitglieder der zuständigen Arbeitskommissionen der Frauenverbände der Kreis- und Gemeindeebene in den Partnerkreisen zur Armutsbekämpfung Zhang, Xihe sowie dem Autonomen tibetischen Bezirk Gannan der Provinz Gansu Gelegenheit zu einem Informations- und Schulungsaufenthalt in Peking.

Im Rahmen eines dreitägigen Workshops zu Beginn des Aufenthalts lieferten Vertreterinnen des chinesischen Staatsrats, der Frauenuniversität und des Allchinesischen Frauenverbandes Einblicke in Maßnahmen zur Armutsbekämpfung und der Revitalisierung ländlicher Räume, den neuen Frauen-und-Kinder-Förderplan und den gesetzlich garantierten Schutz der Rechte von Frauen, ebenso wie in Maßnahmen zur Förderung der Beschäftigung und Selbstständigkeit von Frauen im ländlichen Raum und zum Aufbau und zur Organisation des Frauenverbands auf der lokalen Verwaltungsebene. Darüber hinaus erhielten die Teilnehmer*innen Grundlagen in der Entwicklung von Führungskompetenzen und strategischem Denken vermittelt, flankiert wurden die Vorträge durch Gruppendiskussionen.

Frau Wang Chunyan, Generaldirektorin des Büros für Armutsbekämpfung des Staatsrats, informierte die Teilnehmer und Teilnehmerinnen über die Fortschritte und Erfolge der Maßnahmen gegen die Armut. Von 2012 bis 2019 sank die Zahl der von absoluter Armut betroffenen Menschen in China von 98,99 Millionen auf 5,51 Millionen und wurde somit um 93,48 Millionen reduziert. Die Hälfte dieser Menschen waren Frauen. Bis Ende des ersten Halbjahres 2020 konnte China die bislang noch in Armut verbliebene Landbevölkerung im Wesentlichen aus der Armut befreien. (Der derzeitige Grenzwert für Familien im ländlichen Raum liegt bei einem Pro-Kopf-Nettoeinkommen von 2.300 RMB pro Jahr.) Landesweit 832 Kreise schüttelten die Armut ab, sodass die Verarmung ganzer Regionen nun der Vergangenheit angehört. Frau Wang betonte, dass nun alle gemeinsam daran arbeiten müssen, die Auswirkungen der Epidemie zu überwinden und die bei der Armutsbekämpfung erzielten Erfolge zu konsolidieren. China hat das Armutsreduktionsziel der UN-Agenda für nachhaltige Entwicklung bis 2030 damit 10 Jahre vor dem Zeitplan erreicht. Die anstehenden Aufgaben im Kampf gegen die Armut bestünden nun darin, präzise statistische Auswertungen vorzunehmen, die Kontinuität der politischen Maßnahmen zu sichern und verstärkt Synergien zwischen den Strategien zur Überwindung der Armut und der Revitalisierung des ländlichen Raumes herzustellen.

Frau Cui Lina, Direktorin der Abteilung für Frauenförderung des ACFV, stellte die Arbeit und die Erfolge des Verbandes bei der Beseitigung der Armut und der Revitalisierung des ländlichen Raumes vor und betonte dabei die einzigartige Rolle der Frauen im Kampf gegen die Armut. Frauenverbände aller Ebenen nutzten Internetseiten, WeChat-Gruppen und andere neue Medien, um mehr als 150.000 Aktivitäten, wie etwa Vorträge für Frauen zur Armutsbekämpfung, durchzuführen, an denen über 16 Millionen in Armut befindliche Frauen teilnahmen. Mit einem Schwerpunkt auf besonders armen Regionen wurden mehr als 100 Modellschulungen zur Armutsbekämpfung für die Vorsitzenden der Frauenverbände aus sämtlichen 832 verbliebenen Armutsregionen durchgeführt. Mehr als 100.000 Exemplare der Publikationsreihe „Wissenswertes zur Armutsbekämpfung der Frauen im ländlichen Raum“ wurden erstellt und verteilt. Insgesamt wurden 39,3 Millionen Yuan (rund 5 Millionen Euro) in die Schaffung von 786 „Nationalen Modellbasen zur Bekämpfung von Frauenarmut“ investiert. So wurde mehr als vier Millionen armen Frauen geholfen, sich weiterzuentwickeln und ihr Einkommen zu erhöhen. Außerdem fördern die Frauenverbände auf allen Ebenen auch das Engagement von Frauen in Handwerk, Hauswirtschaft und E-Commerce. Schon Präsident Xi betonte: „Die Überwindung der Armut ist nicht das Ende, sondern der Ausgangspunkt für ein neues Leben und einen neuen Kampf“. Die Aktivierung von Talenten, die Stärkung eines naturnahen und angenehmen Wohn- und Lebensumfelds und gute Regierungsführung im ländlichen Raum sind Ziele und Schwerpunkte der künftigen Arbeit des ACFV zur Revitalisierung des ländlichen Raums.

 

Die außerordentliche Professorin Hou Dianmu von der Frauenuniversität hielt einen Vortrag über weibliche Führungskompetenz und strategisches Denken. Sie betonte die Bedeutung "flexibler Führungskompetenzen". Flexible Führung bedeutet zunächst eine Analyse des Denkens und Handelns des Gegenübers. Hierauf fußend beeinflusst die Führungskraft Menschen ohne Zuhilfenahme harter Autorität und erteilt Weisungen ohne Zwangscharakter. Auf diese Weise entstehen innere Überzeugung und Identifikation. Das Gegenüber schließt sich nun an und setzt die Zielvorstellungen der Organisation aus eigenem Antrieb um. Frauen in Führungspositionen sollten ihre Stärken ausspielen, den Menschen in den Mittelpunkt stellen und auf die ganz individuellen Bedürfnisse eines jeden Menschen eingehen. Darüber hinaus betonte sie die Bedeutung strategischen Denkens: Weibliche Kader müssen in ihrer Arbeit Prioritäten setzen, Chancen nutzen und einen integrierten Ansatz verfolgen, um so die Gesamtentwicklung weiter voranzubringen.

Im Rahmen einer zweistündigen Videokonferenz am 27. Oktober gaben mit Barbara Lanzinger, ehemalige Bundestagsabgeordnete und aktuelle stellvertretende Vorsitzende der Bayerischen Frauenunion, sowie Dr. Ute Eiling-Hütig, Mitglied des Bayerischen Landtags, zwei deutsche Frauenpolitikerinnen durch die Vorstellung von innovativen Ansätzen zur internationalen Frauenarbeit den Frauenarbeiterinnen aus China wichtige Inputs für ihre eigene weitere Arbeit.

Achtsamkeit ist der Schlüssel

Frau Lanzinger schilderte in ihrem Vortrag zunächst grundsätzlich, wie die Rolle der Frau in Deutschland gefördert wird und welche spezielle Rolle die CSU-Frauenunion dabei einnimmt. Als Leitmotiv für die Frauenförderung, aber auch ganz allgemein für die Schaffung einer harmonischen Gesellschaft, gilt für sie Achtsamkeit. Würden die Menschen in einer Gesellschaft ihren Mitmenschen mehr Achtsamkeit schenken, wären viele Probleme bereits gelöst. Auch die Bayerische Frauenunion mit ihren 24.000 Mitgliedern wird seit 70 Jahren von dieser Maxime geleitet und vertritt stets die Anliegen der Frauen, die sie gleichzeitig dabei unterstützt, politische Ämter und Führungspositionen zu bekleiden.

 

Neben dieser proaktiven Förderung der Frauen ist ein weiterer Schwerpunkt der Arbeit der Schutz von Frauen – u.a. vor Gewalt oder Zwangsprostitution. Durch Kampagnen, Slogans („Gewalt kommt nicht in die Tüte“ etc.), Diskursinitiativen und Veranstaltungen nimmt der Verband auch Einfluss auf die Gesetzgebung. Große Erfolge der anhaltenden Bemühungen waren zum Beispiel das Gewaltschutzgesetz oder das Mutterschutzgesetz. Von Interesse für dir chinesische Seite könnten hierbei Schutzeinrichtungen für von Gewalt betroffene Frauen sein, in Anlehnung an die deutschen Frauen(schutz)häuser.

Beschäftigungsmöglichkeiten verbessern

In ihrem Vortrag „Beschäftigung und Einkommensgrundlagen von Frauen im ländlichem Raum in Deutschland“ beleuchtete Frau Dr. Eiling-Hütig, wie Bayern versucht, Frauen in der Arbeitswelt zu helfen. Die Wichtigkeit dieses Themas wird allein durch einen Blick auf aktuelle UN-Prognosen deutlich: 2050 soll der weltweite Anteil der Stadtbevölkerung bereits 70% ausmachen. Allein in China sollen in diesen 30 Jahren 255 Millionen neue Stadtbewohner hinzukommen. Auch wenn sich dieser Trend in Bayern noch nicht so abzeichnet, genießt das Thema - den ländlichen Raum als Lebensmittelpunkt zu bewahren - auch dort und in ganz Deutschland bereits hohe Priorität. Denn, sollte das nicht gelingen, würden die Städte irgendwann im wahrsten Sinne des Wortes „ersticken“ an der Flut an Landflüchtigen, die Arbeit in den Städten suchen.

In Bayern ist der „Heimatbericht“ (2018) eine wichtige Hilfe dafür, den ländlichen Raum attraktiver zu gestalten. Er zeigt die ländliche Entwicklung anhand von Daten und Statistiken zu 20 Themenfeldern und liefert somit eine Grundlage für die strategische Weichenstellung. Im sogenannten 25-Punkte-Programm wird zudem u.a. skizziert, wie Bayern die Themen Digitalisierung, Infrastrukturverbesserung und Regionalisierung der Wissenschaft (zur Innovationssteigerung im ländlichen Raum) angehen will. Eine Teilmaßnahme war die Verlegung einiger Behörden in strukturschwächere Regionen, was auch mehr Frauen ermöglichte, in ihrer Heimat administrative Berufe auszuüben. Im Ergebnis steigerte sich der Frauenanteil in der öffentlichen Verwaltung in Bayern von 44,5% im Jahr 1996 auf nun 52,4%. Der Anteil weiblicher Führungskräfte in öffentlichen Behörden hat sich in dem Zeitraum sogar verdoppelt (37,4%).

Bei allen Maßnahmen ist jedoch nicht „Zwang“ die Maxime, sondern das Erreichen eines Bewusstseinswandels in der Gesellschaft hin zur Gleichstellung in allen Bereichen. Der „Familienpakt Bayern“ ist ein gutes Beispiel zur Förderung von solchen Unternehmen, die die beruflichen Chancen für Frauen erhöhen. Durch die Förderung von mehr weiblichen Studentinnen in den sogenannten MINT-Fächern will Bayern noch mehr Frauen für Berufe in wissenschaftlichen Feldern qualifizieren und sie zu Startup-Gründungen motivieren.  Um Schüler und Schülerinnen die Scheu vor einem MINT-Studium zu nehmen bieten einige bayerische Hochschulen bereits die Möglichkeit an, dass Jugendliche einzelne Lehrveranstaltungen parallel zum regulären Schulunterricht besuchen können.

Coronavirus – neben all dem Leid auch eine Chance für die Zukunft

In Frau Dr. Eiling-Hütigs Vortrag und den anschließenden Diskussionen kamen die Teilnehmer schließlich auch auf den Einfluss von COVID-19 zu sprechen. Nicht zuletzt war es diese Jahrhundertkrise, die – neben all dem Leid und den Verlusten – die Wichtigkeit der Digitalisierung verdeutlicht hat. Durch das in diesem Jahr vielfach praktizierte Home-Office-Arbeitsmodell ergeben sich für Frauen durch die damit einhergehende Flexibilität und bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf neue Chancen am Arbeitsmarkt. Wie wichtig es ist - egal ob in der Stadt oder auf dem Land - Familie und Beruf in Einklang bringen zu können, ist in der Krise noch ein Stück deutlicher geworden.

Frau Zhao Hongju, stellvertretende Leiterin der internationalen Abteilung des ACFV, und andere Teilnehmerinnen schilderten in diesem Zusammenhang eindringlich die Erfahrungen vieler Frauen in China während des Lockdowns Anfang des Jahres. Genau wie in Deutschland waren es auch in China häufig Frauen, die in den sog. „systemrelevanten“ Berufen an vorderster Front auch in den schwersten Zeiten außer Haus arbeiten oder im Home-Office Arbeit und Kinderbetreuung in Einklang bringen mussten. Zudem ist durch die Krise auch in China noch einmal deutlich geworden, wie wichtig es ist, die Digitalisierung auch in ländlichen Gebieten voranzutreiben.

Schicksalsgemeinschaft der Frauen

Frau Dr. Isabelle Harbrecht, Leiterin des Referates Nordost- und Zentralasien, betonte bezugnehmend auf die von Staatspräsident Xi Jinping beschworene „Schicksalsgemeinschaft der Menschheit“ eine Schicksalsgemeinschaft auch der Frauen. Trotz vieler in den letzten Jahren erzielter Fortschritte gibt es im Bereich der Gleichstellung von Mann und Frau noch viele Herausforderungen, an denen man für eine noch gerechtere Gesellschaft in Deutschland und China auch weiterhin gemeinsam arbeiten muss.

 

Praktische Frauenarbeit auf Gemeindeebene

Neben der eher theoretischen Vermittlung von neuem Wissen und Fertigkeiten durch die dreitägige Schulung war es auch Ziel, den Teilnehmer und Teilnehmerinnen durch Besichtigungen von Frauenförderungsprojekten auf Gemeindeebene innerhalb des Verwaltungsgebietes von Peking auch praktische Einblicke in die Frauenarbeit vor Ort zu ermöglichen.

Im Dorf Qiuzhuang im Stadtbezirk Tongzhou werden in einem Dienstleistungszentrum umfassende Hilfen für die Dorfbewohnerinnen angeboten, etwa in den Bereichen Arbeitsvermittlung, Haushaltshilfen oder Fortbildungen. Ein besonderes Anliegen ist den Frauenarbeiterinnen die harmonische Familienordnung und hierbei die Erziehung von Tugenden, bei denen von der Partei wiederentdeckte traditionelle chinesische Werte - wie die kindliche Pietät mit der moralischen Pflicht zur Pflege der älteren Familienangehörigen – propagiert werden. Die Maßnahmen erhöhen die Sicherheit und die soziale Stabilität im Dorf und erleichtern somit auch die Arbeit der Dorfverwaltung.

Im Rahmen des Besuchs einer professionellen Genossenschaft für die Produktion und Vermarktung von Obst und Gemüse „Lüqingting“ im Dorf Wuying erläuterte Frau Liu Hong, Vorsitzende des Frauenverbandes des Bezirks Tongzhou und Präsidentin der örtlichen Genossenschaft, Maßnahmen zur Förderung der Beschäftigung von Frauen und deren Mitwirkung bei der Revitalisierung des ländlichen Raums. Der steigenden Nachfrage nach gesunden Lebensmitteln aus der Region wird man durch die Vermietung kleiner Parzellen für den Anbau von biologischem Obst und Gemüse gerecht. Die Menschen aus der Stadt sollen durch Eröffnung der Möglichkeiten eines eigenhändigen Anbaus das verloren gegangene Verständnis von der Natur zurückerlangen und erhöhtes Umweltbewusstsein entwickeln.

 

Multiplikator*innen für nachhaltige Entwicklung

Als Kommunalbeamten und -innen übernehmen die Teilnehmer und Teilnehmerinnen der Schulung nebenberuflich für den ACFV die Aufgabe der Förderung der Frauenarbeit vor Ort. Die Fortbildung soll der Weiterentwicklung und dem Ausbau der eigenen Kompetenzen dienen und sie besser in die Lage versetzen, die Frauen vor Ort zu motivieren, sich an der Armutsbekämpfung und Revitalisierung des ländlichen Raums in den Armutskreisen zu beteiligen und damit ihren eigenen Beitrag zur lokalen nachhaltigen Entwicklung zu leisten. Nach der Rückkehr in ihre Heimat soll eine zweite Schulungsrunde abgehalten werden, in der die 45 Teilnehmer und Teilnehmerinnen ihr Wissen und ihre Fertigkeiten als Multiplikatoren an weitere Mitglieder der Arbeitskommissionen der Frauenverbände auf der untersten Verwaltungsebene weitergeben. Insgesamt will man in der zweiten Schulungsrunde über 7.000 Personen erreichen.

 

Autoren: Jia Jingjing, Ole Engelhardt und Alexander Birle