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Vortrag an der Chinesischen Universität für Politik- und Rechtswissenschaften
Verhältnis der Grundrechte des Bürgers zur Schutzpflicht des Staates bei Seuchengefahr

Seit nunmehr über einem Jahr prägt die Pandemie das Leben der Menschen weltweit. Zur Bekämpfung der Pandemie haben die Regierungen unterschiedliche Gesetze erlassen, mit denen sie stark in das Leben ihrer Bürger eingreifen. Deutschland hat jüngst zum vierten Mal sein Infektionsschutzgesetz so abgeändert, dass unter bestimmten Umständen eine nächtliche Ausgangssperre greift. Diese und andere Entscheidungen haben bereits zu Dutzenden Klagen beim Bundesverfassungsgericht geführt. Die Frage hinter diesen Klagen lautet: In welchem Umfang ist der Staat legitimiert, zum Schutz der Gesundheit der Bürger die in der Verfassung verankerten Grundrechte einzuschränken?

 

Um die Frage, inwieweit der deutsche Staat die im Grundgesetz garantierten Grundrechte einschränken darf, zu beantworten, hat die Hanns-Seidel-Stiftung (HSS) in Zusammenarbeit mit der Chinesischen Universität für Politik- und Rechtswissenschaften (CUPL) Ende April die beiden renommierten deutschen Rechtsexperten Prof. Jörn Ipsen (emeritierter Ordinarius der Universität Osnabrück und Direktor des Instituts für Kommunalrecht) und Prof. Bernd Schünemann (emeritierter Professor für Strafrecht und Strafprozessrecht an der LMU München und Direktor des Instituts für Anwaltsrecht) dazu eingeladen, in einer virtuellen Vortragsveranstaltung unter Leitung der Moderatorin Frau Prof. Zhao Hong, Professorin für Öffentliches Recht an der Law School der CUPL die rechtlichen Hintergründe zu erläutern. Prof. Xie Libin, Leiter des Deutsch-Chinesischen Rechtsinstituts an der CUPL, übersetzte und fasste die gewonnenen Erkenntnisse am Ende in einer Abschlussrede zusammen.

Die Grundrechte in Deutschland sind nicht außer Kraft gesetzt

Prof. Ipsen gab zunächst einen Überblick über die rechtliche Funktionsweise der Grundrechte. Das deutsche Grundgesetz enthält in seinem ersten Abschnitt (Art. 1 – 19 GG) einen Katalog dieser besagten Grundrechte. Aus Art. 1 Abs. 3 GG geht hervor, dass die Grundrechte für alle Staatsorgane unmittelbar bindendes Recht sind. Grundrechte sind nach deutschem Verfassungsrecht nicht allein Deklamationen, Versprechungen oder Zielbestimmungen - sie sind ihrer Rechtsnatur nach subjektiv-öffentliche Rechte, auf die sich jeder Bürger gegenüber dem Staat berufen kann. Die materiell-rechtliche Qualität als subjektive Rechte wird ergänzt durch die Rechtsweggarantie (Art. 19 Abs. 4 GG). Bei einer Verletzung seiner Rechte – also auch der Grundrechte – steht also jedem der Weg zu den Gerichten offen.

Schützten die Grundrechte anfangs lediglich „Freiheit und Eigentum“, vergrößerte sich ihr Anwendungsbereich mit der Zeit. Vom Grundgesetz werden zahlreiche andere „Schutzgüter“ geschützt, etwa die Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art. 4 GG) oder die Meinungs- und Pressefreiheit (Art. 5 GG). Hieraus ist zu entnehmen, dass die Grundrechte jeweils vor spezifischen Gefährdungen durch die staatliche Macht schützen sollen. Die Grundrechte erschöpfen sich nicht in ihrer Abwehrfunktion, sondern gewähren teilweise ausdrücklich Ansprüche. So hat jede Mutter einen Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft (Art. 6 Abs. 4 GG). Politisch Verfolgte genießen Asylrecht (Art. 16 a Abs. 1 GG). In Rechtsprechung und Rechtswissenschaft hat sich daher im Laufe der Zeit die Auffassung durchgesetzt, dass den Grundrechten nicht nur dann eine Schutzfunktion eigen ist, wenn dies – wie bei den Müttern – ausdrücklich erwähnt wird, sondern dass allen Grundrechten eine derartige Schutzfunktion für den Bürger zukommt. Dieser Auslegung widerspricht Prof. Ipsen allerdings: Den Grundrechten ist vielmehr nur dann ein konkreter Anspruch auf staatliche Leistungen zu entnehmen, wenn diese ausdrücklich – wie beim Mutterschutz – genannt sind. Ansonsten handelt es sich um objektive Verpflichtungen des Staates, die der einzelne Bürger nicht durch Anrufung der Gerichte erstreiten kann.

Wie verhält es sich nun im aktuellen Pandemiefall? Die mit dem Auftreten des Coronavirus in Deutschland getroffenen Eindämmungsmaßnahmen haben tief in das öffentliche Leben und die Privatsphäre der Bürger eingegriffen. Es liegt auf der Hand, dass durch diese Maßnahmen eine Vielzahl von Grundrechten, z.B. die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1), die Versammlungsfreiheit (Art. 8), die Freizügigkeit (Art. 11) oder die Berufsfreiheit (Art. 12 GG) - eingeschränkt wurde. Man sollte hierbei jedoch ausdrücklich betonen, dass die Geltung der Grundrechte nicht aufgehoben worden ist. Die Grundrechte gelten vielmehr uneingeschränkt weiter. Daher müssen sich die Einschränkungen zu jeder Zeit innerhalb des durch die Grundrechte selbst ermöglichten Eingriffsrahmens bewegen. Als Beispiel sei das Grundrecht der Freizügigkeit erwähnt (Art. 11 GG), die nach dem Wortlaut des Grundrechts zur Bekämpfung von Seuchengefahren eingeschränkt werden kann.

Bemerkenswert ist, dass es in den ersten Wochen nach Anordnung der Eindämmungsmaßnahmen nur vereinzelt zu Gerichtsverfahren gekommen ist. Das Bundesverfassungsgericht, das wegen des Verbots von Gottesdiensten angerufen worden ist, hat in mehreren Eilverfahren die Einschränkungen als verfassungsmäßig angesehen. Eine Grundsatzentscheidung steht allerdings noch aus.  

Nach dieser ersten Phase wurden dann jedoch vermehrt die Verwaltungsgerichte gegen Einschränkungsmaßnahmen angerufen. Die Begründung der Klagen stimmte im Wesentlichen darin überein, dass die Einschränkungen nicht erforderlich gewesen seien.  Hier sei der Gesetzesvorbehalt der Grundrechte, aufgrund dessen in das geschützte Rechtsgut im Einzelfall eingegriffen werden kann, näher erläutert: Diese grundrechtseinschränkenden Maßnahmen müssen stets zur Verfolgung des betreffenden Zwecks – etwa der Seuchenbekämpfung – geeignet, erforderlich und verhältnismäßig sein. Der Staat hat also nicht schlechthin das Recht, in Grundrechte einzugreifen, ihm obliegt vielmehr die Pflicht zur Rechtfertigung seiner Maßnahmen, die vor den Gerichten eingeklagt werden kann. Inzwischen gab es bereits eine Vielzahl von Entscheidungen der Oberverwaltungsgerichte, in denen Rechtsverordnungen der Bundesländer auf die Erforderlichkeit der angeordneten Maßnahmen geprüft worden sind. Im Einzelfall sind Bestimmungen der Verordnung für nichtig erklärt worden - immer dann, wenn sie zum Schutz vor dem Coronavirus nicht gerechtfertigt werden konnten.

Zwar herrscht in Deutschland angesichts der Corona-Pandemie ein faktischer und auch rechtlicher Ausnahmezustand. Das bedeutet aber nicht, dass die gerichtliche Kontrolle der Exekutive in irgendeiner Weise eingeschränkt ist. Stattdessen können sich die Bürger sowohl gegen einzelne Maßnahmen, die zur Durchsetzung der Verbote ergriffen werden, als auch gegen deren Rechtsgrundlagen zur Wehr setzen.

Die insgesamt geringe Zahl der Gerichtsverfahren lässt indes den Schluss zu, dass der Ernst der Bedrohung durch die Pandemie erkannt worden ist und die Eindämmungsmaßnahmen auf breiten Konsens stoßen. Um die Einschränkung einiger Grundrechte, besonders der freien Berufsausübung (v.a. Produktion, Gastwirtschaft), etwas „abzufedern“, wurde das Mittel der Entschädigung gewählt. Auch auf diese Weise konnten größere soziale Probleme gemildert werden.

Deutschlands Virusbekämpfung bislang ohne großen Erfolg

Im Anschluss an Prof. Ipsens Vortrag stellte zunächst Prof. Schünemann seine Bewertung der rechtlichen Lage in der derzeitigen Ausnahmesituation vor. Die jüngste Änderung des Infektionsschutzgesetzes, die bundesweit einheitliche Regelungen ermöglicht, begrüßt Prof. Schünemann, nennt sie aber auch „fast selbstverständlich“, da das Virus natürlich nicht von den Grenzen zwischen den einzelnen Bundesländern gestoppt wird. Der in Deutschland praktizierte Föderalismus erweist sich daher in der Virusbekämpfung an manchen Stellen als nicht effektiv.

Wie konnte dieses Gesetz (vereinfacht oft „Notbremsengesetz“ genannt) schließlich beschlossen werden? Dazu musste festgestellt, dass „eine ernsthafte Gefahr für die öffentliche Gesundheit besteht“. Dies lässt sich wiederum auf zwei unterschiedliche Arten begründen. Erstens ist dies der Fall, wenn die Einschleppung einer bedrohlichen Krankheit droht. Zweitens kann es dadurch begründet werden, dass die WHO eine Pandemie ausruft oder die dynamische Ausbreitung einer Epidemie droht bzw. bereits stattfindet.

Während Prof. Schünemann mit Prof. Ipsen dahingehend übereinstimmt, dass der Schutz des Lebens wichtiger ist als der Schutz der allgemeinen Handlungsfreiheit, bewertet er das Vorgehen der Bundesregierung teilweise jedoch etwas kritischer. Insbesondere die ständig wechselnde Kommunikation der Regierung und teilweise „fahrlässige“ Aussagen – zum Beispiel in der Bewertung des Schutzes von Geschichtsmasken - hätten zu einer wachsenden Unsicherheit und einem schwindenden Vertrauen in der Öffentlichkeit geführt.

Weiterhin gelte es, sich nicht nur damit zu begnügen, geografische Virus-Hotspots zu identifizieren, sondern es sei vielmehr notwendig, verstärkt auch bestimmte Milieus bzw. soziologische Faktoren zu identifizieren. Generell ist Prof. Schünemann der Ansicht, dass die Regierung zu geringe Anstrengungen für die Analyse und die Nachverfolgung aufgewendet habe. So seien auch objektiv betrachtet eher willkürliche Inzidenzwerte als alles entscheidende Entscheidungsgrundlagen ausgerufen worden. Zum Beispiel ist bei der Bewertung von Hotspots nicht nur die aktuell vorliegende Anzahl der Infizierten entscheidend, sondern vielmehr das Potenzial für weitere Ansteckungen, also die Infektiosität.

Alles in allem blickt Prof. Schünemann auf die bisherige Virusbekämpfung in Deutschland eher kritisch, sie habe noch „keinen großen Erfolg“ gebracht. Er empfiehlt daher, sich offener dafür zu zeigen, bestimmte Aspekte von erfolgreichen Virusbekämpfungsstrategien in anderen Ländern aufzunehmen.  

Prof. Xie und Prof. Zhao gaben in diesem Zusammenhang einen kurzen Überblick über Chinas Vorgehen gegen das Virus. Anders als die von Prof. Schünemann kritisierten sich wiederholenden unvollständigen Lockdowns in Deutschland reagierte die chinesische Regierung gleich zu Beginn streng und verhängte einen landesweiten nahezu vollständigen Lockdown, inklusive Ausgehsperren für Hochrisikogebiete. Auch das Maskentragen an öffentlichen Plätzen ist seit Beginn der Krise bis heute gängige Praxis. Wie auch in Deutschland herrschte aufgrund der Beispiellosigkeit der Krise nicht durchweg Einigkeit darüber, ob sämtliche Maßnahmen durch die bestehenden Gesetze zweifelsfrei gedeckt sind, allerdings war der Rückhalt in der Bevölkerung für die Maßnahmen stets stark, sodass es zu vergleichsweise wenigen öffentlichen Diskussionen darüber kam. Chinas Justiz hat im Verlauf der Krise damit begonnen, Gesetzesänderungen bzw. -neuerungen anzustoßen, um für potenzielle zukünftige Gesundheitskrisen eine ausreichende gesetzliche Grundlage zu schaffen.

Autor: Ole Engelhardt