Print logo

Online-Vortrag an der Chinesischen Universität für Politikwissenschaft und Recht
Vorstellung des deutschen Bundesverfassungsgerichts (BVerfG)

Das Karlsruher Gericht genießt in der öffentlichen Wahrnehmung ein sehr hohes Ansehen und Vertrauen. Doch mit welchen zentralen Aufgaben ist es betraut und was ist seine Rolle zwischen Politik und Recht? Dies war die Frage, die Prof. Dr. jur. Christian Walter von der juristischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) in einem von der Hanns-Seidel-Stiftung (HSS) und der Chinesischen Universität für Politikwissenschaft und Recht (China University for Politics and Law (CUPL)) am 20. Mai 2021 organisierten Online-Vortrag mit dem Titel „Die Rolle des Bundesverfassungsgerichts in der deutschen Verfassungsordnung“ nachging.

Nach der Begrüßung der Teilnehmer durch Prof. Dr. Xie Libin vom Chinesisch-deutschen Institut für Rechtswissenschaft an der CUPL führte der Chefrepräsentant der HSS in China, Alexander Birle, zunächst in das Thema ein und wies unter anderem auf die aktuelle Bedeutung von Karlsruhe hin. So unternahmen Bürger auch zuletzt im Rahmen der aktuellen Corona-Krise häufig den „Gang nach Karlsruhe“ um ihre Grundrechte durchzusetzen.

Prof. Walter, der in der Vergangenheit selbst am Bundesverfassungsgericht als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig war, leitete seinen Vortrag mit einigen Bildern vom Gericht ein, um die „rechtliche Bedeutung“ von dessen Architektur zu erklären. Die hohen gläsernen Fenster signalisieren dabei Transparenz und die spezielle Säulenbauweise lässt das Gebäude schwebend und leicht wirken. Insofern symbolisiert die Architektur einen Bruch zu den Justizpalästen der Vergangenheit.

Zentrale Verfahrensarten

Nach einer Vorstellung der historischen Zusammenhänge auch aus vergleichender Perspektive – zum Beispiel die Rechtsprechung im Fall „Marbury vs. Madison“, mit der der US Supreme Court 1803 festlegte, dass Bundesgesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin zu überprüfen sind - stellte Prof. Walter zunächst die zentralen Verfahrensarten am Bundesverfassungsgericht vor. Er ging dabei detailliert auf die Verfahren der Normenkontrolle (abstrakt und konkret), der Organstreitigkeit, der Bund-Länder-Streitigkeiten, sowie auf die Verfassungsbeschwerde ein.

Im Rahmen der Normenkontrolle prüft das Bundesverfassungsgericht sowohl Gesetze ohne (abstrakt) als auch mit (konkret) Bezug zu realen Rechtsfällen auf die Verfassungsmäßigkeit. Bei der konkreten Normenkontrolle erfolgt dabei eine dezentrale Vorprüfung durch das jeweilige Fachgericht, aber eine zentralisierte Entscheidung durch Karlsruhe. Bezüglich der abstrakten Normenkontrolle stellte Prof. Walter insbesondere den kontradiktorischen Charakter in der Praxis heraus. Damit ist gemeint, dass antragsberechtigte Organe eine Beeinträchtigung ihrer organschaftlichen Rechte geltend machen können. Ebenso ist dies für Streitfälle zwischen Bund und Ländern oder zwischen einzelnen Ländern möglich.

Während Karlsruhe nur noch selten in Bund-Länder-Streitigkeiten richtet, sind Organstreitigkeiten ein weiteres Tätigkeitsfeld für das Gericht. Diesbezüglich können insbesondere auch Fraktionen als Streitpartei auftreten. Einen besonderen Stellenwert hat die Verfassungsbeschwerde, die von jedermann bei Verdacht auf eine Grundrechtsverletzung erhoben werden kann. In diesem Zusammenhang ist vor allem die Ausstrahlung der Grundrechte in die gesamte Rechtsordnung und in alle Rechtsgebiete wie das  Privat-, Straf- und Wirtschaftsrecht zu berücksichtigen.

Ein Einblick in statistische Daten der letzten fünf bis zehn Jahre rundete den ersten Teil des Vortrags ab. Dabei zeigte sich, dass sich die Gesamtzahl aller Verfahren bei 5000-6000 pro Jahr eingependelt hat. Die Mehrheit der Verfahren sind Verfassungsbeschwerden, die jedoch wiederum im Ergebnis im Durchschnitt nur zu ca. 1-2% erfolgreich sind.

Das BVerfG und die drei Gewalten

In seinem zweiten Vortragsteil ging Prof. Walter auf das Verhältnis des Verfassungsgerichts zu den drei Gewalten ein. Insbesondere die Beziehung zur Legislative ist durch die sogenannte „countermajoritarian difficulty“ - also die Annullierung von Entscheidungen der vom Volk gewählten Legislative durch die nicht gewählte Judikative -  kritisch zu sehen, wobei jedoch formelles und materielles Recht dem Gericht Grenzen setzt. Im Bereich der Judikative kann jedes Urteil eines Fachgerichts durch das Verfassungsgericht angegriffen werden, wenn Verfassungsrecht verletzt ist. Im Ergebnis erfolgt dadurch eine Hierarchisierung der Gerichtsbarkeit. Das Zusammenspiel mit der Exekutive ist weitgehend unproblematisch und die gerichtliche Kontrolle in diesem Bereich ist in der Praxis sehr üblich.

Der Schlussteil behandelte die verschiedenen Entscheidungswirkungen. Prof. Walter ging dabei auf Rechtsfolgen in den verschiedenen Normenkontrollverfahren, die verfassungskonforme Auslegung und auf Sonderfälle ein.

Zusammenfassend ist das Bundesverfassungsgericht einerseits rechtlicher Akteur und als solcher auch Schranken unterworfen. Das Gericht kann z.B. nicht von sich aus selbst tätig werden. Da es gleichzeitig jedoch andererseits auch in jeder beliebigen Frage aktiv werden kann ist es ebenfalls de facto ein politischer Akteur.

Im Rahmen der anschließenden Diskussion wurden grundsätzliche und aktuelle Fragestellungen besprochen. Auf Nachfrage von Frau Prof. Zhao (Professorin für Öffentliches Recht an der Law School der China Universität für Politik und Recht) erklärte Prof. Walter beispielsweise die Entscheidungslogik für das Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Fall des „Containern“ von Lebensmitteln.

Auf die Frage nach der Rolle der öffentlichen Meinung für das Gericht wies Prof. Walter auf die „Unabhängigkeit“ des Gerichts hin. Dies hat sich auch in der Vergangenheit an Urteilen und an der heftigen öffentlichen Reaktion wie im Fall des sogenannten „Kruzifixurteils“ gezeigt, mit dem 1995 klargestellt wurde, dass es keine Pflicht zur Aufhängung von Kruzifixen in Klassenzimmern geben dürfe.

Autor: Ole Engelhardt