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Vom „Aufbau Ost“ zum „Aufbau West“? Die deutsche Wiedervereinigung und regionale Disparitäten in China

Am 14. April 2016 organisierte die Hanns-Seidel-Stiftung an der Pekinger Fremdsprachenuniversität einen Vortrag zur Frage, inwiefern die Erfahrungen mit der deutschen Wiedervereinigung dabei helfen können, die massiven Disparitäten zwischen den Provinzen in Ost-, Mittel- und Westchina abzubauen.

Nach einer Begrüßung der Teilnehmer durch Prof. Wang Jianbin, Dekan der Deutschabteilung der Fremdsprachenuniversität Peking, begann Gisela Färber, Professorin an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, ihren Vortrag mit der Feststellung, dass der sogenannte „Aufbau Ost“ finanzpolitisch durchaus mit den Herausforderungen zu vergleichen ist, denen sich Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg stellen musste. Während des 40-jährigen Bestehens der DDR wurden im Osten Deutschlands keine ausreichenden Investitionen vorgenommen, sodass nicht nur die öffentliche und private Infrastruktur verfiel, sondern auch die Produktivität der Wirtschaft auf ein Drittel derjenigen des Westens abrutschte. Nach der Vereinigung des Staatsgebiets und der Einrichtung einer gemeinsamen Wirtschafts- und Währungsunion wurden viele ostdeutsche Betriebe überwiegend von westdeutschen Großunternehmen aufgekauft. Aufgrund eines Wechselkurses von der ostdeutschen zur westdeutschen Mark von eins-zu-eins verteuerten sich die ostdeutschen Produkte schlagartig, was zur Folge hatte, dass viele ostdeutsche Unternehmen innerhalb von wenigen Wochen zusammenbrachen und die Arbeitslosenquote rapide anstieg.

Gisela Färber bei ihren Ausführungen

Solidarität und Verteilungskonflikte

Sehr schnell wurden Maßnahmen ergriffen, um den Problemen entgegen zu wirken. So wurde das westdeutsche Sozialversicherungssystem bundesweit ausgedehnt, obwohl die Bürgerinnen und Bürger Ostdeutschlands bislang keine Beiträge geleistet hatten. Dadurch entstand in kürzester Zeit ein effektives System der Umverteilung von West nach Ost, da die deutsche Sozialversicherung umlagefinanziert ist, gezahlte Beiträge also direkt den derzeitigen Leistungsempfängern zu Gute kommen. Daneben wurden milliardenschwere Programme zur Überwindung der Teilung Deutschlands aufgelegt, etwa massive Subventionen in den sozialen Wohnungsbau und den Erwerb von Wohneigentum sowie auch für wettbewerbsunfähige Unternehmen zwecks Umstrukturierung und den Erhalt von Arbeitsplätzen. Länder und Gemeinden erhielten Milliardenbeträge für die Erneuerung der Infrastruktur und die Sanierung öffentlicher Gebäude. Um weitere Steuererhöhungen zu verhindern wurde zusammen mit den alten Bundesländern der Fond „Deutsche Einheit“ aufgelegt, durch den die meisten Förderprogramme über Kredite finanziert werden konnten. Ähnlich wie die reichen ostchinesischen Provinzen zur Unterstützung Mittel- und Westchinas stellten die westdeutschen Bundesländer und ihre Gemeinden Personal für den Wissenstransfer zur Verfügung, insbesondere im Bereich rechtsstaatliche Verwaltung.

Auf der Potsdamer Konferenz im Februar 1993 wurde dann die Einbeziehung der neuen Bundesländer in den Länderfinanzausgleich verhandelt. Es wurde ein Konsens erreicht, der jedoch bedeutete, dass die westdeutschen Länder von einem Tag auf den anderen zehn Prozent ihrer Steuereinnahmen verloren, um damit die extrem angeschlagenen neuen Länder zu unterstützen. Und dies, obwohl auch der Bund bereits auf einen Teil seiner Steuereinnahmen zugunsten der neuen Länder verzichtet hatte. Dies hatte zur Konsequenz, dass auch Bundesländer in Westdeutschland, die früher Empfänger von Umverteilungsleistungen gewesen waren, nun einen Teil ihrer Einnahmen abgeben mussten. Außerdem erhielten viele westdeutsche Länder von nun an bedeutend weniger Zuschüsse des Bundes, die nun ebenfalls unter allen Bundesländern aufgeteilt werden mussten.

BIP je Einwohner 1991 bis 2015

Alle Schulden, die der Bund im Laufe des bisherigen Prozesses aufnehmen musste, wurden im sogenannten Erblastentilgungsfond zusammengelegt. Die Hälfte der Zins- und Tilgungslasten mussten durch die Länder getragen werden. Auch die Kommunen wurden an den Kosten der Wiedervereinigung beteiligt. So bezahlen westdeutsche Gemeinden bis heute einen Teil ihrer Gewerbesteuereinnahmen an ihre Länder als Kompensation für deren Zusatzbelastungen und bekommen gleichzeitig weniger Zahlungen aus dem kommunalen Finanzausgleich. Schließlich erhielten die neuen Länder noch Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen in Höhe von 7,2 Milliarden Euro jährlich zum Aufbau ihrer Infrastruktur und zum Ausgleich ihrer extrem niedrigen kommunalen Finanzkraft. Diese Maßnahmen hatten ab 1995 zur Folge, dass den ostdeutschen Ländern schlagartig in etwa die gleichen, wenn nicht sogar mehr Mittel pro Einwohner zur Verfügung standen wie den alten Bundesländern.

1999 entschied das Bundesverfassungsgericht nach einer Klage der Länder Bayern, Baden-Württemberg und Hessen, dass der Solidarpakt, also das Gesamtpaket der Übereinkünfte zur Finanzierung der Wiedervereinigung, neu und klarer geregelt werden müsse. 2001 verhandelten Bund und Länder über die neuen Bedingungen, die 2005 in Kraft traten. Diese beinhalteten eine neue Formel zur Berechnung der jeweiligen Tarife sowie weitere Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen für die neuen Bundesländer, die jedoch bis 2020 schrittweise auf null heruntergefahren werden und zweckgebunden für die Modernisierung der Infrastruktur eingesetzt werden müssen.

Arbeitslosenquoten in West und Ost

Die Lage heute

Man schätzt, dass seit 1991 insgesamt etwa 2 Billionen Euro von West- nach Ostdeutschland transferiert wurden. Es drängt sich deshalb die Frage auf, welche Effekte 25 Jahre nach der Wiedervereinigung erzielt werden konnten. Während das Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner der neuen Bundesländer in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung schnell anstieg, findet dieses Wachstum seit 1995 nur noch sehr langsam statt. Heute liegt deren Wirtschaftskraft bei circa 80 Prozent des Durchschnitts aller Länder, die Steuereinnahmen oftmals noch weit darunter. Es ist nicht zu erwarten, dass der Konvergenzprozess sich in den kommenden Jahren und Jahrzehnten in bedeutendem Maße fortsetzen wird, da die heutigen Siedlungs- und Wirtschaftsstrukturen der neuen Länder denjenigen der „schwächeren“ westdeutschen Länder stark ähneln. Insgesamt konzentriert sich der Wohlstand in Deutschland in einigen wenigen Ballungsräumen, die dann den Durchschnitt des jeweiligen Bundeslandes nach oben treiben. Die Wirtschaftskraft vieler ländlicher Gebiete im Westen des Landes liegt jedoch auf ähnlichem Niveau wie dasjenige im Osten.

In Bezug auf die Arbeitslosigkeit gibt es weiterhin große Unterschiede zwischen Ost und West. In den 1990er Jahren stieg die Zahl der Arbeitssuchenden im Osten bis auf 20 Prozent der Bevölkerung. Seit den Arbeitsmarktreformen 2005 jedoch ging diese bemerkenswert zurück. Dafür gab es nach Färber drei Ursachen: Erstens sind die ostdeutschen Unternehmen heute genauso wettbewerbsfähig und exportstark wie die westdeutschen. Zweitens kam es in Ostdeutschland zu einem extrem starken Geburtenrückgang, sodass heute weniger junge Menschen in den Arbeitsmarkt eintreten als ältere in Rente gehen. Drittens sind viele Arbeitssuchende in den Westen gezogen und haben so die Arbeitslosenzahlen im Osten sinken lassen. Seit 1991 hat der Osten Deutschlands rund 15 Prozent seiner Bevölkerung verloren. Da mehrheitlich junge Frauen in den Westen abwanderten, herrscht heute in vielen Regionen im Osten ein Überschuss an jungen Männern, was nicht nur zu sozialen, sondern auch zu politischen Herausforderungen beiträgt.

Arbeitsmarktreformen 2005: In der Amtszeit von Bundeskanzler Gerhard Schröder wurde 2005 die sogenannte „Agenda 2010“ umgesetzt, die gemeinsam mit den Hartz-Reformen als wichtige Weichenstellung für die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft nach der Jahrtausendwende gilt. Um die Langzeitarbeitslosigkeit abzubauen und die Lohnnebenkosten zu senken, wurde unter anderem die Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammengelegt, die Bezugsdauer für das Arbeitslosengeld gesenkt und der Kündigungsschutz reformiert. Die Maßnahmen, die von einigen als Angriff auf die Soziale Marktwirtschaft kritisiert wurden, haben der SPD viele Wählerstimmen gekostet.

Der Solidarpakt II und damit die derzeitigen Regelungen zum Länderfinanzausgleich laufen 2020 aus. Die Erneuerung der öffentlichen Infrastruktur im Osten des Landes wurde überwiegend von westdeutschen Ländern und ihren Kommunen finanziert, die dazu Einsparungen in ihren Investitionshaushalten vorgenommen und Schulden aufgenommen haben. Heute gibt es deshalb in Westdeutschland mehr hochverschuldete Kommunen als in Ostdeutschland und die Investitionshaushalte vieler westdeutscher Kommunen liegen weit unter dem Durchschnitt. Nach dem Willen der Länder sollen in Zukunft die bisherigen Investitionshilfen zum Wiederaufbau vor allem zur Unterstützung westdeutscher Kommunen eingesetzt werden. Außerdem sollen die Bundesländer mit dem höchsten Schuldenstand zusätzliche Hilfeleistungen erhalten.

Während der Diskussion

Der „Aufbau Ost“ als Vorbild für China?

Abschließend ging Färber auf die Möglichkeiten Chinas ein, sich bei der Bewältigung der großen Disparitäten zwischen Ost- und Westchina am Vorgehen Deutschlands nach der Wiedervereinigung zu orientieren. Sie betonte dabei zunächst, dass sie Chinas Fokus auf die Wirtschaftsentwicklung für durchaus sinnvoll hält, denn ohne Wirtschaftskraft ist ein Angleichen der Lebensverhältnisse nicht machbar. Aus Sicht Färbers ist Infrastruktur, die sich an den Bedürfnissen der erfolgreichen und zukunftsfähigen Branchen orientiert, ein Kernelement des Erfolges. Außerdem ist eine horizontale Umverteilung über die sozialen Sicherungssysteme unerlässlich, um auch die Verlierer des Strukturwandels versorgen zu können. Diese war, so Färber, das ausschlaggebende Konvergenzmittel der Deutschen Vereinigung, das auch dazu beigetragen hat, soziale Unruhen aufgrund von Arbeitslosigkeit zu verhindern. Schließlich hat auch der Länderfinanzausgleich maßgeblich zum Erfolg beigetragen, da er den ärmeren Ländern zusätzliche Mittel verschafft, die sie eigenverantwortlich einsetzen können. Sehr hilfreich ist dabei die Verankerung des Ziels der „gleichwertigen Lebensverhältnisse“ im Grundgesetz, da sich an dieser Maxime viele politische Entscheidungen orientieren, die die Solidarität fördern.

In der anschließenden Diskussion wurde Färber zunächst um eine Einschätzung gebeten, wie sie die Chancen für einen Prozess der Minderung der regionalen Disparitäten in China sieht und wie schnell dieser zum Erfolg führen könnte. Die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Implementierung notwendiger Schritte sieht Färber in China gegeben. Die übliche Vorgehensweise, sich auch international nach Vorbildern umzusehen, ist einer zügigen Lösung der Herausforderungen zuträglich. Die Einführung einer landesweiten Grundrente auf zentralstaatlicher Ebene für alle Bürger, sowohl auf dem Land als auch in den Städten, ist beispielsweise ein lohnenswerter Ansatz, der mit relativ niedrigem Aufwand schnell und effektiv umgesetzt werden könnte. Ein weiterer Schritt in Richtung effektiver Umverteilung wäre die Vereinheitlichung der Arbeitslosenversicherung.

Färber befürchtet jedoch, dass die Einführung eines horizontalen Ausgleichsmechanismus zwischen den Provinzen derzeit am Widerstand der reichen Provinzen in Ostchina scheitern würde. Allerdings, so Färber, kann die Umverteilung unter den Provinzen auch erfolgreich anders organisiert werden, wie Beispiele aus Australien oder Kanada zeigen. Die Frage nach der Dauer eines solchen Reformprogramms beantwortete Färber mit dem Hinweis darauf, dass das in China übliche Experimentieren mit verschiedenen Modellen im Falle eines Finanzausgleichsmechanismus nicht zum Erfolg führen würde. Deshalb ist ihrer Ansicht nach eine einmalige, gut durchdachte Entscheidung notwendig, die dann schnell und im vollen Umfang umgesetzt wird.

Das Problem der Abwanderung insbesondere junger Frauen aus Regionen, in denen der Strukturwandel zu hoher Arbeitslosigkeit führt, wurde ebenfalls erneut angesprochen, da sich derzeit im Nordosten Chinas ein ähnlicher Prozess wie in Deutschland nach der Wende vollzieht. Gerade in Regionen, in denen die Schwerindustrie eine wichtige Rolle spielt und der Dienstleistungssektor nur wenig entwickelt ist, haben es Frauen auf dem Arbeitsmarkt schwer, so Färber. Im Osten Deutschlands gibt es Regionen, in denen die öffentliche Verwaltung der einzige größere Arbeitgeber im Dienstleistungssektor ist. Um also junge, gut ausgebildete Frauen in diesen Regionen zu halten wäre es ein erster Schritt, dafür zu sorgen, dass diese dort Arbeit finden. Gleichzeitig sollte bei der Planung von Subventions- und Infrastrukturprogrammen darauf geachtet werden, dass insbesondere Branchen gefördert werden, die für Frauen besonders attraktiv sind.

Schließlich wurde die Frage gestellt, was Regionen über die Bereitstellung von Infrastruktur hinaus tun können, um ihre Attraktivität für qualifizierte Fachkräfte zu erhöhen. Denn sowohl in Ostdeutschland als auch in Westchina gibt es Kommunen, deren Infrastruktur zwar auf dem neuesten Stand ist, die aber dennoch große Probleme haben, der Abwanderung Einhalt zu gebieten. Neben der Qualifikation von Fachkräften und ausreichender Infrastruktur ist die Ansiedlung wettbewerbsfähiger Unternehmen der Schlüssel für Wirtschaftswachstum und neue Arbeitsplätze, so Färber. Eine diversifizierte Wirtschaftsstruktur und Ideenreichtum bei der kommunalen Wirtschaftspolitik sind hier ausschlaggebend. Das grundsätzliche Problem, dass innovative Zukunftsbranchen im Dienstleistungssektor wissensbasiert und auf Netzwerkstrukturen in den Ballungsräumen angewiesen sind, lässt sich jedoch auch mit viel Kreativität nicht lösen, so Färber, so dass kleine Städte und ländliche Regionen auch in Deutschland weiter große Schwierigkeiten haben werden.

Autor: Jonas Rasch