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Garantien und notwendige Einschränkungen der Rechte der Verteidigung in der Hauptverhandlung
Videokonferenz mit der CUPL

Am 22. Oktober 2020 organisierte die Hanns-Seidel-Stiftung (HSS) zusammen mit der China Universität für Politik und Rechtswissenschaften (CUPL) eine Videokonferenz, auf der sich renommierte Rechtswissenschaftler aus Deutschland und China über die Rechte der Verteidigung in den beiden Ländern austauschten.

Dass ein Angeklagter in einem Gerichtsprozess das Recht auf Verteidigung hat, ist als essentielles Element der Rechtsstaatlichkeit unumstritten. Die Frage, bis wohin die Rechte und Pflichten eines Verteidigers reichen, wird von unterschiedlichen Ländern jedoch auf unterschiedliche Art und Weise beantwortet. Prof. Dr. Bernd Schünemann von der Universität München, Prof. Dr. Hans Kudlich von der Universität Erlangen-Nürnberg, und Frau Prof. Dr. Xiong Qiuhong, Dekanin des Forschungsinstituts für Strafprozessrecht der CUPL, tauschten sich auf dieser Videokonferenz über die genauen Unterschiede und über eventuellen Handlungsbedarf aus.

Faire Balance als Ziel

In seinem Vortrag „Notwendige Verteidigerrechte zur Herstellung einer gewissen Balance in der Hauptverhandlung“ skizzierte Prof. Schünemann zunächst die rechtlichen und historischen Hintergründe für die beiden Gegenpole in der Hauptverhandlung: Staatsanwaltschaft und Verteidigung. Damit das Ziel der Hauptverhandlung, die materielle Wahrheitsfindung, nicht durch den sogenannten Inertia-Effekt – die unbewusste Beeinflussung des Richters durch das Beweismaterial der Staatsanwaltschaft, auf das er vor der Hauptverhandlung Zugriff hat – verfehlt wird, muss die Stellung der Verteidigung ausreichend stark sein. Schon aus „naturrechtlicher Sicht“ ist eine starke Verteidigung unerlässlich, da es im Strafverfahren fast niemals möglich ist, den Schuldnachweis allein auf naturwissenschaftlich exaktem Wege zu führen. Stattdessen werden unzuverlässige Beweismittel wie etwa der Zeugenbeweis benutzt. Die Mitwirkung einer effizienten Verteidigung ist daher schon aus den Fundamenten einer empirischen Erkenntnistheorie notwendig. Prinzipiell ist die Ausgangslage eindeutig: Die Verteidigung ist dem Staat in seinen verschiedenen organisatorischen Ausprägungen (u.a. Staatsanwaltschaft) unterlegen. Die im Strafprozess angestrebte Waffengleichheit besteht daher laut Schünemann nicht. Um trotzdem zumindest eine gewisse Balance herzustellen, stehen der Verteidigung verschiedene Mittel zur Verfügung, darunter die Akteneinsicht. In Deutschland darf die Verteidigung die Akten einsehen, ohne selbst seine Verteidigungsmittel offenlegen zu müssen. Zu den weiteren Mitteln gehören unter anderen die Rechte auf Beweisanträge, auf Beschaffung eigener Beweismittel oder auf Ablehnung des Richters aufgrund von Befangenheit. Die Zeugenvernehmung durch den Verteidiger bewertet Prof. Schünemann dagegen in der Realität als wenig effektiv, nicht zuletzt wegen des erwähnten Inertia-Effekts beim Richter und der Vernehmungsreihenfolge, die vorgibt, dass der Verteidiger den Zeugen erst befragen darf, wenn Richter und Staatsanwalt ihre Befragungen abgeschlossen haben. Ähnlich sieht es für das Recht auf das „letzte Wort“ aus.

Einschränkungen und die Frage der richtigen „Missbrauchsreaktion“

Natürlich ist es möglich, dass ein Verteidiger die ihm gegebenen Rechte missbraucht – auch wenn dies in der Praxis häufiger auf Seiten des Richters der Fall ist. Besonders „missbrauchsanfällig” sind Prof. Kudlich zufolge das Ablehnungsrecht, das Frage- und Erklärungsrecht, sowie das Beweisantragsrecht. Prof. Schünemann schlägt vor, eine unabhängige „Rechtspflegekammer“ zu schaffen, um über einen eventuellen Missbrauch zu urteilen. Prof. Kudlich knüpfte in seinem Vortrag „Notwendige Einschränkung von Verteidigerrechten im Falle eines Missbrauchs” genau hier an. Ein prägnantes Beispiel dafür ist das Beweisantragsrecht, das ein Angeklagter oder eben der Verteidiger „gröblich missbrauchen“ kann, indem er ungerechtfertigterweise zahllose Anträge stellt – nicht um die sachliche Wahrheit zu finden, sondern um den Prozess zu verlangsamen bzw. zu sabotieren. Zu einem gewissen Grad muss dieses Vorgehen hingenommen werden, da ein Strafverfahren gerade durch die Kollision widerstreitender Interessen geprägt ist, die in einen angemessenen Ausgleich gebracht werden müssen. Sollten die Verfahrensbefugnisse jedoch in einer Weise ausgenutzt werden, in der die mit ihrer Einräumung verfolgten Ziele gar nicht erreicht werden sollen, stellt sich die Frage, ob nicht entsprechende Reaktionen des Gerichts möglich sein müssen („Missbrauchsreaktion“). Die genaue Abwägung ist im Einzelfall sehr schwierig und schwer objektiv zu treffen. Komplizierend kommt hinzu, dass die Strafprozessordnung (StPO) nur für einige Missbräuche klare Missbrauchsreaktionen formuliert. In anderen Fällen wird dagegen auf Grundlage anderer Gesetzesvorschriften reagiert, zum Beispiel auf Grundlage von Treu und Glauben (§ 814 und 226 BGB). Hinsichtlich des tatsächlichen Vorliegens eines Missbrauchsfalles in der konkreten Situation muss geprüft werden, ob die Zweckwidrigkeit ein Maß erreicht, das es gerechtfertigt erscheinen lässt, die Ausübung einer prozessualen Befugnis als unzulässig anzusehen. Hinsichtlich der Bestimmung dieser Zweckwidrigkeit muss die konkrete Bezugsgröße dieses Urteils der Zweck der jeweils betroffenen Befugnis sein. Bei der Auswahl einer Missbrauchsreaktion wird zwischen dem Zurückweisen einer einzelnen Befugnis oder sogar dem Verbot ihrer zukünftigen Ausübung unterschieden. Wichtiges Kriterium für die Auswahl ist, ob nur eine einzelne Befugnisausübung oder aber das „Ausübungsverhalten“ insgesamt „missbräuchlich“ war. Ein gutes Beispiel für den Schutz vor einem Befugnismissbrauch ist das Richterablehnungsrecht, denn hier besteht ein zweistufiges Sicherungssystem: Auf der ersten Stufe gilt eine präventive, zeitliche Fixierung der möglichen Antragstellung (§ 25 I StPO). Auf der zweiten Stufe können Ablehnungsgesuche (§ 26 a StPO) anhand verschiedener, missbrauchsrelevanter Aspekte – Formmängel, Prozessverschleppung, verfahrensfremde Zwecke – erleichtert zurückgewiesen werden.  Für die Ablehnung von „missbräuchlich gestellten“ Beweisanträgen wurden die Bestimmungen in der StPO 2017 und 2019 sogar deutlich ausgeweitet.

„Dem Richter einen Sack Süßkartoffeln kaufen“

Wie auch Prof. Schünemann ist sich allerdings auch Prof. Kudlich aus seiner Erfahrung sicher, dass der Missbrauch von Verteidigerrechten kein flächendeckendes Problem darstellt.  Zu beachten ist im zukünftigen Umgang mit einem Befugnismissbrauch stets, dass der „Verfahrensökonomie“ niemals Vorrang vor den Interessen des Angeklagten eingeräumt werden darf.

Frau Prof. Dr. Xiong Qiuhong ließ wissen, dass die Situation in China deutliche Parallelen zu Deutschland aufweist. So hat das Streben nach einer Balance zwischen den beiden Seiten auch in China eine große Relevanz.  Die Macht des Richters bzw. des Staates überwiegt die des Verteidigers derzeit noch deutlich. Zwar zitierte Frau Xiong einige prominente Fälle von sogenannten „Winkeladvokaten“ in China, die durch den Missbrauch ihrer Verteidigerrechte den Prozess sabotierten. In extremen Fällen ist es auch schon vorgekommen, dass die Verteidigung dem Richter einen Sack Süßkartoffeln schenkte, um so seine Autorität zu untergraben.  Hintergrund ist ein chinesisches Sprichwort: „Ein Beamter, der keine gerechten Entscheidungen im Sinne der Menschen trifft, sollte besser sein Amt aufgeben und Süßkartoffelverkäufer in seiner Heimat werden.“ Im Allgemeinen fällt das Machtgefälle aber auch in China eindeutig zu Gunsten des Richters aus. Von einer „Waffengleichheit“ kann genau wie in Deutschland auch in China nicht die Rede sein. Die reellen Auswirkungen aus der Akteneinsicht durch die Verteidigung auf den Prozessausgang sind in China ebenfalls wegen des Inertia-Effekts fraglich. Zudem ist auch in China wenig Erfolg für Befangenheitsklagen und wenig Einfluss des letzten Wortes zu erkennen.

 

Autor: Ole Engelhardt