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Ein Plädoyer für Freihandel und soziale Gerechtigkeit
Sozialstaat im Zeichen globaler Herausforderungen

Wirtschaftlicher Protektionismus im Aufwind, die mühsamen Errungenschaften des weltweiten Freihandels in Gefahr. Sozialleistungen werden in vielen Ländern immer weiter abgebaut. In welche Richtung steuert die Globalisierung und was kann zum Erhalt der internationalen Ordnung getan werden?

Auf eine einfache Formel heruntergebrochen, beschreibt Globalisierung einen stärkeren Zuwachs des Außenhandels einer größeren Gruppe von Staaten im Vergleich zum Wachstum ihrer jeweiligen Bruttoinlandsprodukte. Eine zentrale Folge dieser Entwicklung ist eine verstärkte internationale Arbeitsteilung.

In diesem Sinne ist Globalisierung keinesfalls eine Selbstverständlichkeit. Ließe sie sich auf rein technologische Fortschritte in Kommunikation und Infrastruktur reduzieren, wäre sie unumkehrbar. Professor Elmar Rieger von der Universität Bamberg warnte in einem Gastvortrag an der Pekinger Fremdsprachenuniversität jedoch vor einem solchen Verständnis, denn die Geschichte der Globalisierung ist und bleibt von Rückschlägen geprägt.



Professor Rieger analysiert den Zusammenhang zwischen Freihandel und Sozialpolitik

Wirtschaftlicher Erfolg durch Freihandel

Schon im Jahr 1848 beschrieb das Kommunistische Manifest die Realität von Globalisierung, indem es eine zuvor ungekannte Schwäche von nationalen Ökonomien gegenüber dem internationalen Markt feststellte. Diese Entwicklung beschleunigte sich rasant, sodass gegen Ende des 19. Jahrhunderts in einigen Bereichen bereits höhere weltwirtschaftliche Integrationsniveaus erreicht wurden als heute.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kam es zu einer starken Deglobalisierungswelle. Staaten strebten nach Autarkie und wollten sich wieder aus eigener Kraft mit Rohstoffen und Verbrauchsgütern versorgen. Die Folge waren massive Produktivitätseinbußen. Der radikale Rückgang der ökonomischen Integrationsniveaus in dieser Zeit beweist, dass technologische Entwicklungen allein keine stabile Grundlage für wirtschaftliche Globalisierung schaffen können.

Eine neue Globalisierungswelle begann nach dem Zweiten Weltkrieg nur sehr zögerlich. Der amerikanische Senat bremste sogar zunächst die Gründung einer Weltfreihandelsorganisation. Das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (General Agreement on Tariffs and Trade, GATT), das 1947 in Kraft trat, war daher nur ein Provisorium mit Anfangs nicht mehr als 28 Teilnehmerstaaten. In zahlreichen, oft zähen, Verhandlungsrunden wurden Zölle und sonstige Handelshemmnisse nach und nach abgebaut. Im Jahr 1995 wurde das Abkommen schließlich durch die neu gegründete Welthandelsorganisation ersetzt.

Die Zollsenkungen trugen zu einer außerordentlichen Expansion des Welthandels bei: 1960 betrug der Anteil des Handels an der weltweiten Wirtschaftsleistung 24 Prozent, heute sind es fast 60 Prozent. Die Ausweitung des Handels hat Wirtschaftswachstum gefördert, Arbeitsplätze geschaffen und Haushaltseinkommen weltweit erhöht.



Professor Struck betonte die Wichtigkeit einer sozialen Arbeitsmarktpolitik

Gesellschaftliche Akzeptanz durch Sozialpolitik

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde der Spielraum für Zollsenkungen nach und nach immer größer. Hatten sich nationale Interessengruppen in der Vergangenheit oft erfolgreich gegen eine Liberalisierung staatlicher Zollpolitik gestemmt, baute nun in vielen westlichen Demokratien eine umfängliche Sozialpolitik einen Schutz auf, der die Nachteile des Freihandels abzufedern vermochte.

Nicht nur in Deutschland spielte die Sozialversicherung hierbei eine entscheidende Rolle. Zuvor verbreiteter Altersarmut wurde durch die Einführung eines neuen Rentenversicherungssystems vorgebeugt. Lohnfortzahlungen im Krankheitsfall bedeuteten einen wichtigen Schutz für Werktätige. Vor allem aber schaffte die Arbeitslosenversicherung denjenigen Arbeitnehmern Sicherheit, deren Tätigkeiten in vergleichsweise unproduktiven Wirtschaftszweigen durch neue internationale Konkurrenz bedroht waren. Finanziert wurden die Leistungen durch das Solidaritätsprinzip: „Wer mehr verdient, zahlt auch mehr ein“.

So war die Ausweitung von Sozialleistungen Voraussetzung für den Abbau von Zollschranken. Die staatliche Arbeitsmarktpolitik investierte in Fortbildungen, Umgliederungsbeihilfen und, wenn nötig, in Arbeitslosengeld. Die Sozialpolitik wurde zu einer Kraft, die Arbeitsmärkte rationalisiert und Arbeitskräften dabei hilft, sich an Veränderung und Modernisierung anzupassen.

In den letzten 20 Jahren jedoch wurden Wohlfahrtsleistungen weltweit wieder zurückgefahren. Dies gibt Auftrieb für Protektionismus und stärkt eine von Angst getriebene Antiglobalisierungsbewegung mit neuen nationalen Egoismen. Die Formel „America First“ beinhaltet, dass der Wohlfahrtsstaat unter Donald Trump, wie schon unter George W. Bush, nicht an neue Herausforderungen angepasst wird. Stattdessen errichten die USA entgegen der Regeln der Welthandelsorganisation zusätzliche unbefristete Zollschranken. Unprofitable Industrien werden so künstlich am Leben gehalten, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit sinkt und der fiskalische Spielraum für eine verantwortungsvolle Sozialpolitik schrumpft weiter zusammen.

Soziale Arbeitsmarktpolitik

Sowohl die Vertreter des Freihandels als auch die Protektionisten stellen in den Mittelpunkt ihrer Argumentation meist die Beschäftigungssicherheit der Menschen.

Professor Olaf Struck, Arbeitswissenschaftler und Kollege von Elmar Rieger an der Soziologischen Fakultät der Universität Bamberg, beschäftigt sich mit dem Wandel von Arbeitsmarktstrukturen. Er beschrieb in Peking, wie die Globalisierung, vor allem aber der technische Fortschritt durch Digitalisierung und Automatisierung, die Politik vor neue Herausforderungen stellt.

Zwar führten technische Fortschritte und erhöhte Produktivität, anders als von manchen Beobachtern erwartet, bisher nicht zu einem Anstieg der Arbeitslosenquoten, berufliche Anforderungsprofile verändern sich jedoch erheblich. Geringqualifizierte können immer leichter wegrationalisiert werden, während die Nachfrage nach Hochqualifizierten steigt.

Die beruflichen Perspektiven der einfachen Arbeiter und Angestellten sind von entscheidender Bedeutung für das Gerechtigkeitsempfinden innerhalb der Gesellschaft. Auch wenn eine arbeitsmarktgerechte Bildung gefördert wird, werden nie alle Menschen in der Lage sein, sich zu hochqualifizierten Fachkräften zu entwickeln. Daher muss die Politik Anreize schaffen, auch diese Personengruppen weiter zu beschäftigen.

Um möglichst viele Menschen in wirtschaftliche Produktionsprozesse einzubinden, bemüht sich Deutschland außerdem um den Ausbau qualifizierter Facharbeit. Dieses Modell der „Partizipativen Produktion“ steht dem amerikanischen Modell der „Neo-Taylorisierung“ entgegen, das auf wenige Experten in Schlüsselpositionen setzt, die Abläufe automatisieren und standardisierte Einfacharbeit überwachen. Welcher Weg ökonomisch effizienter ist, hält Struck für bisher nicht ausgemacht. Deutschland jedenfalls bemüht sich in Hinblick auf eine sozialverträgliche Arbeitsmarktentwicklung um eine möglichst breite Facharbeiterschaft.

Gemeinsam bilden Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik die Grundlage für die gesellschaftliche Akzeptanz freien Handels. Leider, so Rieger, ist dieser systemische Zusammenhang den meisten Politikern kaum präsent. Doch ohne sozialpolitische Begleitung ist die Globalisierung zum Scheitern verurteilt.

Autor: Dominik Sprenger