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Opfer und Opferschutz in der Strafrechtspflege in China und Deutschland

Ein Symposium brachte Anfang Dezember 2015 Rechtsexperten aus China und Deutschland in Peking zusammen, um die Stellung des Opfers im Strafrecht der beiden Länder zu erörtern. Die „Wiederentdeckung des Opfers“ im 20. Jahrhundert und der Täter-Opfer-Ausgleich standen im Mittelpunkt der Diskussionen.

Yu Zhigang eröffnet die Veranstaltung

Laufende Reformvorhaben der chinesischen Regierung räumen dem Recht eine immer stärkere Rolle in der Gestaltung des gesellschaftlichen Miteinanders ein. Vor diesem Hintergrund hat das Pekinger Büro der Hanns-Seidel-Stiftung (HSS) 2015 unter anderem ihre Kooperation mit der China Universität für Politik und Rechtswissenschaft (China University for Political Science and Law, CUPL) bedeutend ausgebaut. Zum Jahresabschluss fand dort am 4. und 5. Dezember ein gemeinschaftlich organisiertes Symposium zum Thema „Opfer und Opferschutz in der Strafrechtspflege“ statt.

Nach einer Begrüßung der Teilnehmer durch den Organisator der Konferenz Dr. Huang He, Mitarbeiter am Chinesisch-Deutschen Institut für Rechtswissenschaft der CUPL, eröffnete Prof. Dr. Yu Zhigang, stellvertretender Präsident der Universität, die Veranstaltung. In seinem Grußwort ging er auf die Entwicklung des chinesischen Strafrechts in den letzten 35 Jahren ein, die sowohl vom sowjetischen Vorbild als auch von traditionell chinesischen und modernen kontinentaleuropäischen Einflüssen bestimmt wurde. Bei der Weiterentwicklung ist eine eingehende Auseinandersetzung mit den Quellen wichtig, sodass ein möglichst direkter Austausch mit Deutschland wünschenswert ist. Die Rolle des Opfers im Strafrecht gehört dabei ohne Zweifel zu den relevanten Themen, so Yu.

 

Bernd Schünemann während des Vortrags

Das Opfer als Prozesspartei

Zum Auftakt hielt Prof. Dr. Bernd Schünemann von der LMU München einen Vortrag zur „Stellung des mutmaßlichen Opfers im Strafverfahren“. In Deutschland hat seit Mitte der 1980er ein Paradigmenwechsel stattgefunden, der es dem Opfer heute erlaubt, als Partei die eigenen Interessen im Strafprozess zu vertreten. Diese und andere Maßnahmen des Opferschutzes haben jedoch Auswirkungen auf die rechtsstaatliche Balance des Strafprozesses als Ganzes, so Schünemann.

Zunächst führt das Zulassen weiterer Ankläger neben der Staatsanwaltschaft zu einer Beeinträchtigung der nach Funktionen gegliederten Prozessstruktur. Die gleichberechtigte Stellung von Verletztem und Angeklagtem ignoriert außerdem die Grundprinzipien prozeduraler Gerechtigkeit, da auf Seiten des Verletzten die Genugtuung, auf Seiten des Angeklagten jedoch die gesamte soziale Existenz auf dem Spiel steht. Nach Schünemann kann sie auch nicht durch die Idee der restorative justice begründet werden, denn solange am Ende des Verfahrens eine staatliche Strafe droht, durch die das Unrecht vergolten werden soll, muss der Rechtsschutz des Beschuldigten an erster Stelle stehen.

Auch die expressive Straftheorie geht in ihrer Hinwendung zum Opfer zu weit und widerspricht darüber hinaus teilweise den Grundannahmen des heutigen deutschen Strafrechts. Nach ihr müsste es dem Opfer zum Beispiel möglich gemacht werden, auch bei schwersten Straftaten durch Verzeihen und Wiedergutmachung eine Strafe überflüssig zu machen.

Besonders schwer wiegt nach Schünemann, dass die Wahrnehmung der Rechte auf Akteneinsicht, Rechtsbeistand sowie Anwesenheit in der Hauptverhandlung die Zeugenaussage des Opfers von einer Wissensbekundung in eine juristisch ausgefeilte Parteierklärung verwandeln kann, was die Überprüfung der Glaubwürdigkeit seiner Aussagen und damit die Auffindung der materiellen Wahrheit erheblich erschwert. Gleiches gilt für einige Maßnahmen zum Schutz des Opfers vor sekundärer Viktimisierung, die zwar insgesamt positiv zu bewerten sind, zum Wohle der Wahrheitsfindung aber überarbeitet werden sollten.

Zu begrüßen ist die Verbesserung der Opferstellung durch Änderungen beim Adhäsionsverfahren, die dem Verletzten die Möglichkeit bieten, vermögensrechtliche Ansprüche wie etwa Schmerzensgeld direkt im Strafverfahren geltend zu machen. Im Gegensatz dazu wurden jedoch die Anwendungsmöglichkeiten des Klageerzwingungsverfahrens durch das Opfer zuletzt reduziert, was eine Kontrolle der Staatsanwaltschaft durch das Opfer erschwert und damit dessen Rechte erheblich einschränkt.

Zheng Xi von der Fremdsprachenuniversität Peking

Die Rolle der Polizeibehörden

Assistenzprofessor Dr. Zheng Xi von der Fremdsprachenuniversität Beijing knüpfte mit seinem Beitrag zur „Rolle der Behörden für öffentliche Sicherheit beim Opferschutz in Strafverfahren“ an die Äußerungen Schünemanns an. Während in Deutschland mittlerweile darauf geachtet werden muss, dass die Stellung des Opfers im Strafverfahren nicht überhandnimmt, wird dem Schutz des Opfers in China noch nicht ausreichend Beachtung geschenkt. Der regulative Rahmen ist zwar bereits geschaffen, doch vor allem in der praktischen Umsetzung gibt es vielfältige Probleme.

Gerade die Behörden für öffentliche Sicherheit (Polizeibehörden), die in den meisten Fällen die erste Anlaufstelle für Opfer von Straftaten sind, vernachlässigen ihre Schutzfunktion immer wieder, beispielsweise wenn Beamte sich bei schwierigen Fällen weigern, eine Anzeige aufzunehmen, um ihre Aufklärungsquote nicht zu gefährden. Häufig verletzen mangelnder Respekt und unangemessene Fragen die Menschenwürde, gerade bei Gewalt- und Sexualdelikten. Verbesserungsbedarf besteht auch beim Schutz der Privatsphäre und persönlichen Schutz von Opfern und deren Familienangehörigen vor Einschüchterung und Racheakten.

Die Behörden für öffentliche Sicherheit sind zudem gehalten, das Recht des Opfers auf Verfahrensbeteiligung zu gewährleisten, doch entsprechende Vorgaben werden meist nur formell erfüllt. Dass der Anspruch des Verletzten auf Rechtshilfe oft nicht gewahrt wird, liegt allerdings teils daran, dass es nicht nur in den Behörden selbst an kompetenten Rechtsexperten mangelt, sondern insgesamt an Strafrechtsanwälten. Gleiches gilt für psychologisch ausgebildetes Fachpersonal zur Unterstützung von traumatisierten Opfern. Zheng plädierte dafür, bei Reformen zum verbesserten Opferschutz beim Polizeiwesen anzusetzen. Zu beachten ist dabei allerdings, dass Schutzmaßnahmen nicht auf Kosten der Rechte des Angeklagten gehen.

Hürden bei der Verfahrensbeteiligung in China

Die mangelnde Verfahrensbeteiligung des Opfers sprach auch Prof. Dr. Wei Yuening von der CUPL im ersten Teil seines Vortrags zu „Status quo und Überlegungen zum Opferschutz im chinesischen Strafverfahren“ an. Weder in Bezug auf seine Teilnahme an Verhandlungen, noch bei der generellen Ausübung seiner Prozessrechte wird die Praxis dem Anspruch des Gesetzgebers gerecht. Das Opfer tritt nur selten persönlich vor Gericht in Erscheinung und kann sein Rechte auf  Zeugenaussage, Einreichung von Anträgen und Äußerung von Ansprüchen sowie seine Informationsrechte oft nicht wahrnehmen.

Wenn sich die zuständigen Behörden gegen die Anklageerhebung entscheiden oder das Opfer ein erstinstanzliches Urteil nicht akzeptiert, fehlen bisher effektive Rechtsmittel zur Überprüfung der Entscheidung. Diese passive Rolle führt immer wieder dazu, dass Opfer eine Petition als letzten Ausweg ansehen, um außerhalb des Rechtswegs eine Behandlung des Falls in ihrem Sinne zu erzwingen, was die Verbindlichkeit der Rechtsprechung schwächt. Aktuelle Reformen zielen jedoch darauf ab, Petitionen in das Justizsystem zurückzuführen.

In Bezug auf die Entschädigungsansprüche des Opfers ist festzustellen, dass diese auf dem Wege einer zivilen Nebenklage oft nicht zufriedenstellend erfüllt werden können. Der Täter-Opfer-Ausgleich kann diese Defizite jedoch teilweise kompensieren. Fehlende Finanzmittel aufseiten des Täters verhindern aber immer wieder eine angemessen Entschädigung des Opfers.

In der anschließenden Diskussion warf Dr. Gao Jie von der Hauptstadt-Universität für Wirtschaft und Handel die Frage auf, ob eine prozedurale Trennung von Schuldfeststellung und Festlegung des Strafmaßes nicht dazu beitragen könnte, viele der in den vorangegangenen Vorträgen angesprochenen Probleme zu lösen. Nach Schünemann wäre es etwa denkbar, die Rolle des Opfers im ersten Teil des Verfahrens auf diejenige des Zeugen zu beschränken, und es erst nach dem Erweis der Schuld stärker als Prozesspartei einzubinden.

Im Hinblick auf den Täter-Opfer-Ausgleich verwies Schünemann darauf, dass weder Gericht noch Staatsanwaltschaft geeignet sind, als neutrale Vermittler aufzutreten. Da solche Verfahren an Relevanz gewinnen, geht er von der Entwicklung einer eigenständigen Mediationsbehörde aus. Eine sorgfältige Abwägung, welche Art von Fällen sich für einen Täter-Opfer-Ausgleich eignen, ist dabei zwingend, denn es besteht auch weiterhin ein öffentliches Interesse an der Bestrafung des Täters und der Aufrechterhaltung der Verbotsnorm, die durch vermehrte Ausgleichsverfahren geschwächt werden könnte.

Li Weihong ist sowohl als Dozentin als auch bei der Staatsanwaltschaft tätig

Kriminalitätsfurcht, Strafbedürfnis und Erwartungen an das Strafverfahren

Anschließend sprach Prof. Dr. Klaus Boers von der Universität Münster zu „Einstellungen und Erwartungen von Kriminalitätsopfern“, die im Zentrum der Diskussion um Vergeltungsstrafrecht und wiederherstellende Gerechtigkeit stehen. Beide Richtungen haben ein großes Interesse an Kriminalitätsfurcht, Strafbedürfnis und den konkreten Erwartungen an das Strafverfahren.

Unter den verschiedenen Erklärungsversuchen für Kriminalitätsfurcht ist die Viktimisierungsperspektive die wohl populärste, so Boers. Sie beruht auf der Annahme, dass bei Opfern von Gewaltdelikten die Kriminalitätsfurcht steigt. Die empirischen Befunde können einen solchen Zusammenhang jedoch nur sehr bedingt bestätigen. Ein interaktives Verständnismodell, das verschiedene Erklärungsansätze miteinander kombiniert, zeigt jedoch, dass die Kriminalitätsfurcht maßgeblich von der persönlichen Risikoeinschätzung und Coping-Fähigkeiten bestimmt wird. Erfahrungen aus dem unmittelbaren Nahbereich haben demnach kaum Einfluss auf das jeweilige Strafbedürfnis, das eng an die jeweilige Weltanschauung gekoppelt ist.

Neben der Kriminalitätsfurcht spielen die Sanktionseinstellungen eine wichtige Rolle. Befragungen zeigen auch hier, dass diese zwar moderat von der Weltanschauung und der überregionalen Berichterstattung beeinflusst werden, eine Opfererfahrung dagegen nur einen sehr geringen Einfluss hat. Vom Strafverfolgungssystem erwarten die Opfer neben Transparenz, Prävention und moralischer und materieller Unterstützung vor allem Wiedergutmachung, eine Entschuldigung vom Täter sowie dessen Bestrafung.

Untersuchungen aus dem anglo-amerikanischen Raum zeigen, dass sich sowohl sogenannte victim impact statements als auch der Ansatz der restorative justice positiv auf die  Zufriedenheit des Opfers mit dem Strafverfahren auswirken. Eine härtere Bestrafung des Täters lässt sich nicht feststellen. Auch der in Deutschland üblicherweise von unabhängigen Ausgleichsstellen durchgeführte Täter-Opfer- Ausgleich verläuft weit überwiegend erfolgreich. Dieser kommt meist bei mittleren und mittelschweren Straftaten zum Einsatz.

Empirische Untersuchungen zeigen also, dass Opfer von Strafverfahren sowohl eine Wiedergutmachung als auch die Bestrafung des Täters erwarten, so Boers abschließend. Der Täter-Opfer-Ausgleich kann also im Bereich der mittleren und mittelschweren Kriminalität eine wichtige Rolle spielen, bei schweren und Kapitaldelikten jedoch keinesfalls das Strafrecht ersetzen.

Referenten und Organisatoren des Symposiums

Opferentschädigung von staatlicher Seite

In seinem Vortrag zu „Problemstellungen und Perspektiven der Opferentschädigung in China“ ging Dr. Fang Jun, ebenfalls von der China Jugend-Universität für Politikwissenschaften, auf aktuelle staatliche Maßnahmen zur Opferentschädigung ein. Da Entschädigungen oft sehr niedrig ausfallen, ist aus Sicht Fangs ein stärkeres Engagement des Staates notwendig. Die 2014 veröffentlichten „Vorschläge zum Auf- und Ausbau eines staatlichen Systems der Rechtshilfe“ gehen in diese Richtung, die darin enthaltenen Regelungen beziehen sich jedoch neben Opfern von Gewalttaten und Zivilstreitigkeiten auch auf Petitenten. Fang sieht diese Entwicklung kritisch, da die neuen Vorschläge die staatlichen und gesellschaftlichen Interessen an sozialem Frieden in den Vordergrund stellen. Dadurch verlieren die Rechte der Opfer von Straftaten an Bedeutung und es steht zu befürchten, dass ein großer Teil der finanziellen Mittel für Petitenten verwendet wird.

Die Tatsache, dass auch bei den meisten Fahrlässigkeitsdelikten ein Recht auf Entschädigung besteht, strapaziert das vorgesehene Budget weiter. Hinzu kommt, dass nach den neuen Vorschlägen die Gerichte für die Ausgleichsverfahren zuständig sind, was deren Neutralität jedoch beschädigen könnte. Schließlich fehlt es laut Fang an detaillierten Vorgaben zu entsprechenden Bewilligungsverfahren sowie an alternativen Möglichkeiten für den Fall, dass ein Antrag auf staatliche Ausgleichszahlungen abgelehnt wird.

Die zweite Diskussionsrunde begann zunächst mit dem Hinweis von Assistenzprofessor Sun Yuan von der China Jugend-Universität für Politikwissenschaft, dass es sich in China beim Täter-Opfer-Ausgleich um eine häufig angewendete Notlösung handelt, die der Wahrung des sozialen Friedens dienen soll, die vom Strafrecht allein noch nicht geleistet werden kann. In Deutschland wurde der Täter-Opfer-Ausgleich dagegen als Reaktion auf eine zu starke Konzentration auf den Täter etabliert und kommt als Zusatzinstrument nur begrenzt zum Einsatz. Dadurch ergeben sich fundamentale Unterschiede im Verständnis dieses Instruments, die beachtet werden sollten.

Von deutscher Seite wurde anschließend nach dem Effekt des Täter-Opfer-Ausgleichs auf die Zahl der vollstreckten Todesurteile in China gefragt. Unter bestimmten Bedingungen kann die Vollstreckung der Todesstrafe auf diesem Wege aufgeschoben oder auch ganz ausgesetzt werden, so Li. Dies trägt unter anderem auch dazu bei, die Zahl der Vollstreckungen insgesamt zu senken. Auch die kürzlich beschlossene Verminderung der Zahl von Straftaten, die mit der Todesstrafe bestraft werden können, dient diesem Zweck.

Thomas Hillenkamp sprach zur Viktimologischen Maxime

Opferverhalten und Täterunrecht

Den zweiten Tag des Symposiums eröffnete Prof. Dr. Thomas Hillenkamp, Universität Heidelberg, mit einem Vortrag zur „Viktimologischen Maxime als Gesetzgebungs-, Auslegungs- und Strafzumessungsprinzip“. Die viktimologische Maxime besagt, dass für das Ermessen der Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit einer Tat auch das Verhalten des Opfers in den Blick genommen werden muss. Ein Opfer kann demnach seine Schutzwürdigkeit durch eigenes verbotenes oder rechtsmissbräuchliches Verhalten verwirken. Außerdem soll die Schutzbedürftigkeit dann entfallen, wenn das Opfer den Schaden durch zumutbaren Selbstschutzverhindern kann. Wo keine Schutzbedürftigkeit besteht, besteht auch keine Strafbedürftigkeit und, nach Meinung einiger Vertreter der viktimologischen Maxime, auch keine Strafwürdigkeit.

Vertreter der Maxime sprechen sich dafür aus, diese bereits in der Gesetzgebung zu berücksichtigen, so Hillenkamp. Dabei berufen sie sich darauf, dass der Gesetzgeber nicht legitimiert ist, in Fällen Strafrechtsschutz zu gewähren, in denen das Opfer sich auch selbst schützen kann. Auch als Auslegungsprinzip könnte die viktimologische Maxime Anwendung finden. Demnach könnten Strafbestände entfallen, wenn sich das Opfer eigenverantwortlich hätte schützen können, so etwa in Betrugsfällen oder bei Vermögensschäden, die sich auf rechtswidrig erlangtes Vermögen beziehen.

In Deutschland hat sich diese Sicht aber bis heute in der Gesetzgebung nicht durchgesetzt und auch die Rechtsprechung ist sehr zurückhaltend, denn auch leichtfertige Opfer sollen vom Strafrecht geschützt werden. Und auch in der Literatur dominiert die Kritik, die sich sowohl auf methodische, als auch auf inhaltlich-dogmatische und kriminalpolitische Gründe bezieht. Nach Hillenkamp kann die Maxime allein bei der Strafzumessung sinnvoll eingesetzt werden, indem das Verhalten des Opfers gegebenenfalls die dominierende Verantwortung des Vorsatztäters mindert. Eine Systematisierung des Opferverhaltens, dass dazu geeignet ist, Täterunrecht zu mindern, würde dazu beitragen, die Maxime in der Praxis anwendbar zu machen.

Selbstgefährdung als Strafminderungsgrund

Auch der anschließende Vortrag von Assistenzprofessor Dr. Jiang Su von der Peking-Universität zur „Selbstgefährdung des Opfers bei Fahrlässigkeitsdelikten“ befasste sich mit der Frage, inwieweit das Opfer bei der bewussten Mitwirkung an einer risikobehafteten Handlung für eine aus dieser Handlung resultierende Verletzung seiner Rechtsgüter verantwortlich ist. In China findet, anders als in Deutschland, die Selbstgefährdung zumeist keine Berücksichtigung bei der Strafzumessung für den Täter. Die in Deutschland übliche Unterscheidung zwischen einer eigenverantwortlichen Selbstgefährdung und einer einverständlichen Fremdgefährdung auf Grundlage des Prinzips der Tatherrschaft lehnt Jiang ab, da diese seiner Meinung nach weder angemessen noch praktisch möglich ist. Dennoch plädiert er dafür, die Selbstgefährdung des Opfers zukünftig auch in der chinesischen Rechtspraxis bei der Strafzumessung zu berücksichtigen.

Prof. Dr. Lin Wei, stellvertretender Präsident der China Jugend-Universität für Politikwissenschaft, ging zu Beginn der abschließenden Diskussionsrunde auf die Notwendigkeit einer Abwägung zwischen der Stellung des Opfers und derjenigen des Täters im Strafprozess ein. Seiner Ansicht nach muss verhindert werden, dass durch die Überbewertung der Verantwortung des Opfers bei der Bewertung einer Straftat neue Freiräume für Täter entstehen. Dennoch sollte auch in China sowohl die Rolle der Opfer beim Zustandekommen der Straftat als auch die Wünsche des Opfers in Bezug auf die Wiedergutmachung berücksichtigt werden. Wie Hillenkamp meint aber auch Lin, dass dies hauptsächlich im Rahmen der Strafzumessung geschehen sollte. Dabei ist allerdings auch zu beachten, dass die Stärkung der Stellung der Opfer in China zu einem erhöhten Arbeitsaufwand für Richter führt, die schon heute oft überlastet sind.

Autor: Jonas Rasch