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Strafrechtliche Fragen der Corona-Pandemie im deutsch-chinesischen Rechtsvergleich
Online-Konferenz mit der Peking-Universität

Am 11. November 2020 organisierte die Hanns-Seidel-Stiftung (HSS) zusammen mit dem Forschungsinstitut für Strafrecht und der Forschungsstelle für empirische Rechtsforschung der Peking-Universität eine Videokonferenz, auf der renommierte Rechtswissenschaftler aus Deutschland und China über eine besonders aktuelle rechtliche Fragestellung diskutierten: Welche strafrechtlichen Herausforderungen ergeben sich aus der COVID-19-Pandemie und wie unterscheidet sich der Umgang damit in Deutschland und China?

Die Corona-Pandemie hat durch ihren unmittelbaren Einfluss auf das menschliche Miteinander massive Auswirkungen auf sämtliche Lebensbereiche. Das Strafrecht, das traditionell (zumindest zu einem Teil) darauf basiert, im persönlichen Diskurs den wahren Sachverhalt zu ermitteln, kann dabei keine Ausnahme bilden. Was sich allerdings unterscheiden kann, ist der Umgang mit dieser neuen ungekannten Herausforderung. Per Videokonferenz tauschten sich daher die beiden deutschen Strafrechtsprofessoren Prof. Dr. Bernd Schünemann (Universität München) und Prof. Dr. Hans Kudlich (Universität Erlangen-Nürnberg) mit ihren chinesischen Kollegen von der Peking-Universität genau darüber aus.

Wann und wie ist ein einzelner Infizierter haftbar für eine Virusübertragung?

In seinem einleitenden Vortrag erläuterte Prof. Dr. Schünemann, wie das deutsche Strafrecht derzeit mit denjenigen umgeht, die das Virus schuldhaft übertragen.

Der Grund, warum der Staat seine Bürger überhaupt vor dem Virus schützen muss, liegt in dessen Unberechenbarkeit und möglichen tödlichen Folgen. Die Maßnahmen, die über das Verwaltungsrecht angeordnet werden, können dabei von extrem (Lockdown) bis milde (Tragen von Atemschutzmasken) variieren. Gegen diejenigen, die sich nicht an die Verordnungen halten, können Sanktionen über das Strafrecht verhängt werden. Jede einzelne Infektion ist irreversibel und kann durch gesundheitliche Maßnahmen oder zivilrechtlichen Schadensersatz maximal abgemildert werden - das Strafrecht schützt hier daher Leib und Leben der Bürger und erfüllt damit die „ultima ratio“-Voraussetzung. Als mögliche Tatbestände sind im Kontext von COVID-19 viele Deliktarten denkbar, einschl. Vorsatzdelikte, Fahrlässigkeitsdelikte, Erfolgsdelikte, konkrete und abstrakte Gefährdungsdelikte, sowie die Mittelgruppe der erfolgsqualifizierten Delikte. Vor allem Erfolgsdelikte sind dabei jedoch nur eingeschränkt passend, da eine Infektion nicht zwangsläufig auch schwere gesundheitliche Folgen nach sich zieht. Zudem ist es schwer, einen klaren Kausalzusammenhang nachzuweisen. Kriminalpolitisch scheinen daher Gefährdungsdelikte besser für den Sachverhalt zu passen.

Wegen der Aktualität des Coronavirus gibt es noch keine Rechtsprechungen, doch lassen sich Erkenntnisse aus vergangenen Fällen wie dem Pocken-Virus gewinnen. In einem Fall hatte ein sich in Indien unwissend mit dem Virus infizierter Arzt nach seiner Rückkehr nach Deutschland mehrere Patienten angesteckt, die schließlich daran starben. Er wurde daraufhin wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung verurteilt. Dieser Fall trug zur Entstehung der sogenannten Sorgfaltsnorm bei. Das heißt, der Arzt hätte sich wegen seines Aufenthalts in Indien der Gefahr bewusst sein müssen und sich in Quarantäne begeben müssen. Diese Sachlage ließe sich auch auf das Coronavirus anwenden. Natürlich verlangt jedoch jeder Einzelfall individuelle Abwägungen und Entscheidungen. Zum Beispiel könnte die „Fahrlässigkeit“ im Corona-Kontext auch davon abhängen, ob Kontakt zu einer Risikogruppe oder Personen mit niedrigem Risiko bestand. In einem anderen Fall entschied das Bundesgerichtshof auf einen Körperverletzungsvorsatz – nicht aber auf Tötungsvorsatz -, nachdem ein wissentlich AIDS-Infizierter trotzdem ungeschützten Geschlechtsverkehr mit seinem Partner hatte und ihn dabei mit HIV ansteckte. Vor der Tötung eines Menschen, so das Gericht, stehe eine viel höhere Hemmschwelle, und der Täter habe möglicherweise angenommen, dass selbst im Falle einer Infektion noch rechtzeitig ein wirksames Heilmittel gegen Aids gefunden werden könne. Auf Corona übertragen ließe sich hier der Tatbestand einer mittelbaren Täterschaft mit Infizierungsvorsatz formulieren. Allerdings sind auch hier wiederum etliche individuelle Ausnahmen möglich. Ist ein Infizierungsvorsatz mit dem Vorsatz der Körperverletzung identisch? Was ist, wenn der Infizierte eine Atemschutzmaske trägt? Diese Fragen sind derzeit noch unbeantwortet. Aus Prof. Schünemanns Sicht läge eine Lösung des Problems darin, dass jeder, der positiv getestet wurde, bei Aufnahme eines zur Infektion geeigneten Kontaktes den Partner darüber aufklären muss - auch dann, wenn er eine Atemmaske trägt. Anderenfalls begeht er zumindest den Versuch einer Körperverletzung. Wenn allerdings noch kein positives Testergebnis (bei der später als infiziert bestätigten Person) vorliegt, gibt es dagegen für einen Infizierungsvorsatz keine hinreichenden Anhaltspunkte. Um Rechtssicherheit zu schaffen, sollte der Gesetzgeber diese Regelungen ausdrücklich formulieren, wie Prof. Schünemann vorschlägt. Die Anordnung des Gesundheitsamtes, sich nach einem positiven Testergebnis für 14 Tage in Quarantäne zu begeben, könnte allerdings in diesem Sinne interpretiert werden.

Die Pandemie als Katalysator für die Digitalisierung des Strafprozesses?

Prof. Dr. Kudlich fokussierte sich in seinem Vortrag darauf, wie die bestehenden Probleme auch im Strafrecht, und hier vor allem in der Hauptverhandlung, durch digitale Technologien gemindert werden könnten, wie dies zum Beispiel im Bildungssektor (Online-Unterricht) oder in der Arbeitswelt (Videokonferenzen) geschehen ist.  Denn bei all den tragischen Folgen der Pandemie ist es mittlerweile „Gemeinplatz, dass die Corona-Krise etwa dem digital rückständigen deutschen Schulsystem eine Initialzündung verpasst haben könnte.“

Aktuell, so beschreibt Prof. Kudlich, sind die Grundstrukturen der Hauptverhandlung im deutschen Strafprozessrecht jedoch noch eher „digitalisierungsfeindlich”. Das lässt sich an einer Reihe von Einzelvorschriften und prozessualen Strukturprinzipien festmachen, z.B. dass „Ton- und Fernseh-Rundfunkaufnahmen sowie Ton- und Filmaufnahmen zum Zwecke der öffentlichen Vorführung oder Veröffentlichung ihres Inhalts […] unzulässig“ sind (§ 169 I 2 GVG). Für bestimmte Personen ist zudem die zwingende Anwesenheit in der Hauptverhandlung vorgesehen, welche traditionell als „körperliche“ Anwesenheit verstanden wird. Auch der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme erfordert die zumindest teilweise persönliche Anwesenheit dieser Zeugen in der Hauptverhandlung. Der Öffentlichkeitsgrundsatz des § 169 I 1 GVG garantiert zudem, dass innerhalb der Grenzen des räumlich Möglichen grundsätzlich auch am Verfahren Unbeteiligte als „Saalöffentlichkeit“ den Verhandlungen beiwohnen können.

Demgegenüber stehen bislang nur wenige explizite Möglichkeiten, um Mittel der Digitalisierung zu nutzen. Diese haben nach ihrem Zuschnitt und ihrem Anwendungsbereich zudem nur einen geringen Nutzen mit Blick auf die Corona-bedingten Probleme. Beispielsweise ist es möglich, dass Medienvertreter in einem separaten Arbeitsraum per Tonaufnahmen über die Verhandlung informiert werden. Eine Art „Live-Übertragung“ lässt § 247a StPO in Fällen zu, in denen die dringende Gefahr eines schwerwiegenden Nachteils für das Wohl des Zeugen besteht, wenn er in Gegenwart der in der Hauptverhandlung Anwesenden vernommen wird. Für den speziellen Fall der Zeugenaussage würde ein solches technisches Vorgehen Infektionsrisiken durchaus vermeiden – allerdings sind die Voraussetzungen der Vorschrift nicht auf einen gesundheitlichen Nachteil des Zeugen oder anderer Verfahrensbeteiligter durch die Aussage im Sitzungszimmer zugeschnitten, sodass sie keine Lösung in der Fläche bietet.

Auch wenn die Digitalisierung in der Hauptverhandlung derzeit also noch nicht sehr fortgeschritten ist, haben Diskussionen darüber schon lange vor Corona begonnen. 2015 empfahl beispielsweise die Expertenkommission zur StPO-Reform, die Einführung einer audiovisuellen Dokumentation näher zu prüfen und dabei insbesondere die Auswirkungen auf das Revisionsverfahren zu berücksichtigen, welche zumindest nicht die grundsätzliche Aufgabenverteilung zwischen Tatsachen- und Revisionsinstanz berühren sollen. Ein ganz praktisches Problem sind ferner die erforderlichen Ressourcen, nicht nur für die technische Ausstattung der Gerichtssäle, sondern insbesondere auch für die entsprechende Manpower, um solche Aufzeichnungsvorgänge fehlerfrei zu gestalten. Nach Prof. Kudlichs Ansicht ist ohnehin zu konstatieren, dass die Vorschläge in der bislang diskutierten Konzeption keine große Überschneidung mit den Problemen der Corona-Pandemie haben. Denn zum einen geht es hier vorrangig um die Dokumentation von tatsächlich ablaufenden Hauptverhandlungen - ohne dass in diesem Kontext über Änderungen dieses Ablaufs diskutiert würde. Zum anderen ist die Dokumentation gerade für interne Zwecke bestimmt, was etwa Einschränkungen der Öffentlichkeit nicht kompensieren könnte.

Prof. Kudlich ist jedoch der Ansicht, dass sich gerade mit Blick auf den Öffentlichkeitsgrundsatz technisch ein „pandemietaugliches“ Szenario einer Hauptverhandlung vorstellen ließe. Die Verhandlung könnte aufgezeichnet werden und etwa mittels bestimmter beim Gericht anzufordernder Zugangsdaten live mit angesehen werden. Unter dem Gesichtspunkt der Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen ließe sich der damit verbundene Effekt noch steigern, wenn die Aufzeichnung – technisch aufwendiger, aber nicht unmöglich – einen Zusammenschnitt verschiedener Aufzeichnungsvorgänge darstellen würde, so dass etwa auch die Staatsanwaltschaft oder die einzelnen Richter eines Kollegialgerichts nicht (alle) körperlich im Saal anwesend sein müssten. Mögliche Einwände, etwa dass dafür ein Internetzugang Voraussetzung wäre, sind in Deutschland zu vernachlässigen. Das größte Problem stellt allerdings § 169 I 2 GVG dar, der derartige Aufzeichnungen explizit untersagt. Mit einer so diametralen Abkehr vom bisherigen Prinzip der „Saalöffentlichkeit“ ist – auch wegen des technischen Aufwands - daher selbst für Pandemiezeiten kaum zu rechnen.

In seinem Vortrag hat Prof. Kudlich somit dargestellt, dass die bislang „Corona-unabhängig” diskutierten Möglichkeiten wenig auf die derzeitige Pandemie-Situation anwendbar wären. Zudem sind unter Pandemiegesichtspunkten verschiedene technische Möglichkeiten denkbar, persönliche Kontakte zu vermeiden. Zumindest teilweise würden diese aber zu so signifikanten Änderungen der bisherigen Verfahrensstruktur führen, dass ihr Einführung selbst für den Pandemiefall fraglich erscheint. Dies heißt aber nicht, dass digitale Mittel auch in Zukunft keinen Weg in die strafrechtliche Hauptverhandlung finden können. Vor allem an den Rändern sind durch eine Digitalisierung sogar Vereinfachungen denkbar, die den schützenswerten Strukturen nicht zuwiderlaufen, sondern damit zumindest kompatibel sind, möglicherweise dafür vielleicht sogar förderlich sind, wie zum Beispiel die Online-Vernehmung eines Auslandszeugen.

Digitalisierung ist in China kein Paradigmenwechsel

Im Anschluss an die ausführliche Darstellung der Situation in Deutschland erklärten die Wissenschaftler der Peking-Universität, wie China bislang mit der Corona-Herausforderung umgeht. Dr. Lyu Hanyue berichtete in seinem Kommentar, dass bereits am Anfang der Epidemie der Oberste Volksgerichtshof, die Oberste Volksstaatsanwaltschaft, das Ministerium für öffentliche Sicherheit und das Justizministerium zusammen eine Justizauslegung über die Bestrafung der maßnahmenwidrigen Handlungen erlassen hatten. Wer als bestätigt oder verdächtigt Infizierter eine Quarantäne verweigert bzw. verlässt und in einen öffentlichen Raum oder ein öffentliches Verkehrsmittel eintritt, wird demnach wegen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit bestraft. Wer auf andere Weise maßnahmenwidrig handelt und die Weitergabe des Coronavirus oder ihre schwierige Gefährdung verursacht, wird wegen Behinderung des Infektionsschutzes bestraft.

Zur Veranschaulichung beschrieb er den konkreten Fall im Rencheng-Gefängnis in der Provinz Shandong, wo ein Fahrer einen Virus-Ausbruch ausgelöst hatte. Der Fahrer hatte vorher Kontakt mit einer Person gehabt, die aus Wuhan (damals noch Hochrisikogebiet) zurückgekehrt war, die Infektion bei ihm selbst wurde jedoch erst später festgestellt. Er ist derzeit wegen Behinderung des Infektionsschutzes angeklagt und könnte zu einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren verurteilt werden. Auch der damalige Gefängnisdirektor und sein Stellvertreter sind wegen Pflichtsäumnis angeklagt. Ob diese Anklagen in diesem Ausmaß rechtmäßig sind, ist unter den chinesischen Rechtswissenschaftlern noch nicht abschließend beurteilt. Prof. Jiang Su berichtete, dass in China gleich zu Beginn der Krise ein vermehrter Einsatz digitaler Technologien ermutigt wurde. Treffen zwischen Anwalt und Klient im Gefängnis finden nun beispielsweise primär per Videoschalte statt. Um doch noch ein persönliches Treffen zu ermöglichen, ist in der aktuellen Pandemiephase ein aufwendiges Antragsverfahren notwendig. Seiner Meinung nach lässt dieses Jahr jedoch erkennen, dass ein vermehrter Einsatz von digitalen Mitteln nicht zwingend den Kern der Strafprozessordnung verändern muss. Allerdings müssen dafür noch klarere Vorschriften getroffen werden, die den Einsatz auch über diese Ausnahmephase hinaus kodifizieren könnten. Dr. Zhang Zixian ist ähnlicher Ansicht. Den in Deutschland verbotenen Ton- und Filmaufnahmen steht man in China zum Beispiel generell offener gegenüber. Bereits 1999 hat das „Gesetz für Öffentliche Verhandlungen“ die Aufzeichnung von Verhandlungen erlaubt. 2010 wurde die zeitgleiche oder zeitverzögerte Ausstrahlung erlaubt. Natürlich bestehen in beiden Fällen diverse Ausnahmen, beispielsweise bei Gerichtsverhandlungen mit Jugendlichen. In manchen Situationen ist es sogar verpflichtend, durchgehend aufzunehmen, zum Beispiel bei Zeugenvernehmungen. Digitale Medien gelten in China also nicht wirklich als Paradigmenwechsel, sondern vielmehr als ein effektiver Weg zur Beweissicherung und Sicherstellung der Wahrheit und damit auch zum Schutz des Angeklagten. Dr. Zhang berichtete von Beispielfällen in den Provinzen Fujian und Zhejiang, die in diesem Jahr per Videoschalte verhandelt wurden.

Autor: Ole Engelhardt