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Mittelschichten und soziale Ungleichheit in Deutschland und China

Die Mittelschichten gelten als gesellschaftlicher Stabilitätsanker. Während sie in zahlreichen westlichen Ländern heute schmerzliche Schrumpfungsprozesse durchlaufen, wachsen sie in China weiter an. Die gesellschaftlichen Folgen dieser gegensätzlichen Entwicklungen standen im Fokus eines Gastvortrags an der Peking Universität.

Das Thema traf bei den Studierenden auf großes Interesse

Im Rahmen der langjährigen Kooperation zwischen dem Zentrum für Deutschlandstudien (ZDS) der Peking Universität und der Hanns-Seidel-Stiftung referierte Dr. Günter Schucher, Senior Research Fellow am GIGA-Institut für Asienstudien, am 17. November 2016 zum Thema „Das Streben nach der Mitte: Mittelschichten und Ungleichheit in Deutschland und China“.

Das soziale Phänomen moderner Mittelschichten ist weltweit mit positiv aufgeladenen „Sehnsuchtsbildern“ verbunden, so Schucher einleitend. Der Aufstieg und die Expansion der Mittelschicht gelten als Indikator für persönliches Glück und gesellschaftlichen Fortschritt. Gleichzeitig stellt der Staat Regierungsfähigkeit unter Beweis, indem er die breite Masse der Gesellschaft am Wohlstandsgewinn teilhaben lässt. Ein Anwachsen der Mittelschicht wird daher allgemein mit der Abmilderung von Vermögens- und Einkommensungleichheiten assoziiert, ein Schrumpfen hingegen mit einer Zunahme an Ungleichheit. Somit ist die Mittelschicht ein Stabilitätsanker für den sozialen Zusammenhalt und ein Träger gemäßigter sozialer und kultureller Werte.

Steckt die deutsche Mittelschicht in einer Krise?

Ob die Mittelschicht in Deutschland derzeit schrumpft oder stabil bleibt hängt davon ab, welche Begriffsdefinition man zugrunde legt. Unstrittig ist jedoch, dass sie, ähnlich wie in allen europäischen Ländern, bis Mitte der 1980er Jahre stetig gewachsen ist. Nach einem Rückgang in den 1990er und frühen 2000er Jahren kam es seit 2005 wieder zu einer weitgehenden Stabilisierung. Die Einkommensungleichheit hat in Deutschland in den vergangenen Dekaden insgesamt nur leicht zugenommen, was vor allem auf die staatliche Umverteilung zurückzuführen ist. So ist der Einkommensanteil der Mittelschicht vor der staatlichen Umverteilung durch Steuern und Leistungen seit den frühen 90er Jahren zwar merklich gefallen, bezieht man diese jedoch in die Berechnungen mit ein, ergibt sich nur noch ein marginaler Rückgang.

Kann vor diesem Hintergrund von einer Krise der deutschen Mittelschicht gesprochen werden? Tatsache ist, so Schucher, dass die frühere Wachstumsdynamik gebrochen ist und es kaum noch Zugänge aus den unteren Schichten gibt. Zudem ist das Risiko des Abrutschens in allen Segmenten der Mittelschicht höher als die Aufstiegswahrscheinlichkeit und auch innerhalb der Mittelschicht verstärkt sich die soziale Differenzierung. Gleichzeitig zeigen Statistiken zur gesellschaftlichen Mobilität jedoch, dass Bewegung vor allem an den Rändern stattfindet und der Kern der Mittelschicht weiterhin relativ stabil ist.

Unbehagen entsteht aus der Angst vor dem Abrutschen

Unbehagen entsteht in der Bevölkerung vor allem aus Angst vor einer Verschlechterung der Situation, insbesondere im Hinblick auf die Lebensplanung und die mittel- bis langfristige Wohlstandsentwicklung. Die Abnahme der intergenerationalen Mobilität lässt deshalb die Sorgen wachsen. Nur noch ein Viertel der unter 45-Jährigen schafft heute im Vergleich zur Elterngeneration einen beruflichen Aufstieg, während dem Rest nicht selten ein sozialer Abstieg zu drohen scheint. Vor diesem Hintergrund spricht Schucher von einer zunehmenden „Statuspanik“, insofern als sich viele Angehörige der deutschen Mittelschicht vor dem Verlust einer über Jahrzehnte gewachsenen Lebensqualität und der damit einhergehenden sozialen Identität fürchten. Insgesamt handelt es sich angesichts des relativen Wohlstands in Deutschland aber eher um eine diffuse Unsicherheit als um konkrete Existenzängste. Gerade der soziale Kern der Mittelschicht reagiert wesentlich sensibler auf reale oder gefühlte Bedrohungen wie beispielsweise die jüngsten Euro-, EU- und Flüchtlingskrisen und kann deshalb gewissermaßen als gesellschaftlicher Seismograf dienen.

Chinas Mittelschicht wächst… (Quelle: McKinsey)

Chinas Mittelschicht wächst weiter an

Die Entwicklung der Mittelschicht in Deutschland muss vor dem Hintergrund des anhaltenden Wachstums der neuen globalen Mittelschichten gesehen werden, das die kommenden Jahrzehnte prägen wird und mit einer Verschiebung der wirtschaftlichen Bedeutung der Weltregionen einhergeht. China, dessen Mittelschicht seit langem stark wächst, wird dabei eine entscheidende Rolle spielen. Eine Studie der Unternehmensberatung McKinsey prognostiziert bis 2022 einen weiteren signifikanten Anstieg der Mittelschicht an der städtischen Bevölkerung im Land bei gleichzeitiger Verlagerung hin zur oberen Mittelschicht. Neben den wirtschaftsstarken Gebieten Ostchinas wird nun vermehrt auch in Zentral- und Westchina ein starkes Wachstum erwartet.

Dennoch nimmt die soziale Ungleichheit weiter zu, auch wenn das Einkommens- und Konsumgefälle zwischen Stadt und Land seit Ende der 1990er Jahre leicht abgenommen hat. Denn gerade innerhalb des städtischen Raums verschärft sich die Ungleichheit weiter, unter anderem aufgrund fehlender staatlicher Einkommensumverteilung, die die teils erheblichen Einkommensdifferenzen ausgleichen könnte. So geht die Schere zwischen Mittelschicht und Superreichen immer weiter auseinander. Laut einer Studie der Peking Universität von Anfang 2016 kontrollierte das oberste Prozent der Bevölkerung ein Drittel der Vermögenswerte. Auch der Abstand zwischen dem oberen und dem unteren Ende der Mittelschicht wächst zusehends.

Es fehlt die soziale Orientierung

Trotzdem blicken die meisten Chinesen zuversichtlich in die Zukunft. Gut zwei Drittel der Befragten zeigen sich in einer Umfrage des Washingtoner Pew Research Center aus dem Jahr 2016 optimistisch, dass sich ihre persönliche wirtschaftliche Situation in den kommenden 12 Monaten verbessern wird. Noch etwas mehr Menschen sogar gehen davon aus, dass es den Kindern einmal besser gehen wird als der Elterngeneration. Abstiegsängste spielen also bislang noch kaum eine Rolle. Und dennoch ist auch die chinesische Mittelschicht von Sorgen geprägt. Ungewissheit verspüren die Menschen unter anderem hinsichtlich ihrer eigenen beruflichen Zukunft und erhöhter Bildungskosten für die Kinder. Auch steigende Immobilienpreise, Zweifel an der Lebens- und Arzneimittelsicherheit sowie die starke Umweltbelastung lösen Skepsis aus. Die Sorge um die Zukunftsperspektiven der nachfolgenden Generation führt sogar so weit, dass viele den Weg zum Glück ihrer Kinder in der Emigration sehen.

Zugleich fehlt es der chinesischen Mittelschicht an einer Verankerung in Werten und Normen. Die heutige Mittelschicht begann sich erst mit der Reform- und Öffnungspolitik gegen Ende der 1970er Jahre herauszubilden und ist daher noch sehr jung. Während sie sich hauptsächlich über einen ständig steigenden Wohlstand definiert, ist dessen schneller Zuwachs nun jedoch teilweise bedroht. Vor dem Hintergrund der rapiden Veränderungen in Lebensstil und Sozialstatus der letzten Jahrzehnte führt dies zu einem Mangel an sozialer Orientierung. Auch die weitgehende Abwesenheit politischen und gesellschaftlichen Engagements beispielsweise in Verbänden und Vereinen unterstreicht eine fehlende Verankerung im gesellschaftlichen Gesamtgefüge. So mangelt es politisch und ökonomisch an einem Grundgefühl der Sicherheit, der Status Quo fühlt sich instabil an.

Staatliche Umverteilung verringert soziale Disparitäten

Die anschließende Diskussion drehte sich zunächst um wirtschafts- und sozialpolitische Maßnahmen zur Gewährleistung einer gesunden Mittelschichtsentwicklung in China. Eingangs verwies Schucher diesbezüglich noch einmal auf staatliche Umverteilungsmaßnahmen, die in Deutschland maßgeblich zur Stabilisierung der Lage beitragen und auch in China spürbare Effekte erzielen könnten. Mit Blick auf die soziale Mobilität ging Schucher auf wirtschafts- und arbeitsmarktpolitische Steuerungsmaßnahmen ein. So könnte eine gezielte wirtschaftliche Strukturförderung hin zu einer höheren Wertschöpfung mehr qualifizierte Arbeitsplätze schaffen und neue Aufstiegsmöglichkeiten erschließen. Angesichts einer derzeit zu hohen Anzahl an Hochschulabsolventen würde dies gleichzeitig zur sozialen Stabilität beitragen. Gefahren für die weitere Entwicklung der Mittelschicht sieht Schucher währenddessen weniger in einer sinkenden wirtschaftlichen Produktion, sondern vielmehr in gesellschaftlichen Problemen wie Korruption beziehungsweise Rent-Seeking, die behindern, dass die Mittelschicht ihr Potential ausschöpft.

Günter Schucher und Huang Liaoyu

Nationale Abschottungsreflexe zeugen von Kurzsichtigkeit

Auch die von Teilen der deutschen Mittelschicht empfundene Abstiegsangst kam während der Diskussion noch einmal zur Sprache. Ausgelöst wird diese hauptsächlich durch die wirtschaftliche Situation und die Unvorhersehbarkeit der Globalisierung, so Schucher. Obwohl die deutsche Mittelschicht insgesamt stark von der globalen Marktwirtschaft profitiert, sind Zweifel angesichts vielfacher globaler Abhängigkeiten durchaus verständlich. Entscheidend ist hier vor allem das Gefühl, dass die Einflussmöglichkeiten auf die sozioökonomischen und politischen Prozesse schrumpfen. Dies wiederum verleiht Fremdenfeindlichkeit und Abschottungsreflexen Auftrieb. So werden beispielsweise Flüchtlinge leicht zur Projektionsfläche diffuser Ängste.

Angesprochen auf deutsche und europäische Renationalisierungs- und Anti-Globalisierungstendenzen verwies Schucher auf die wirtschaftliche Kurzsichtigkeit isolationistischer Politikansätze. Deren Befürworter wollen zwar negative Einflüsse fernhalten, meist aber die positiven Aspekte offener Märkte und Grenzen weiterhin nutzen. So verweigern etwa gerade einige Netto-Nehmerländer der EU die solidarische Aufnahme von Flüchtlingen und schotten sich von der Gemeinschaft ab. Eine Wiedereinführung der Grenzen in der EU würde allerdings immense Kosten verursachen, was allen zum Nachteil geriete. Ein ganz zentrales Problem ist laut Schucher also, dass viele Vorteile der EU mittlerweile als selbstverständlich gelten, während die Gemeinschaft häufig vorschnell für Probleme verantwortlich gemacht wird.

In seinem Schlusswort bedankte sich Gastgeber Prof. Huang Liaoyu, Leiter des ZDS, bei allen Beteiligten für die aktive Partizipation und hob noch einmal die zentrale Bedeutung der Mittelschichten für eine nachhaltige gesellschaftliche Entwicklung in Deutschland und China hervor.

Autor: Dominik Sprenger