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Veranstaltungsreihe „Soziale Mobilität in Deutschland und China“
Gesellschaftlicher Aufstieg immer schwieriger

Es ist ein langfristiger Trend in Deutschland und in China: Soziale Klassen verfestigen sich, die Herkunft der Eltern entscheidet zunehmend über die Zukunft der Kinder. Abhilfe schaffen kann nur eine gerechte Bildungspolitik.

Jeder Bürger verdient gleichwertige Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs, doch in vielen modernen Gesellschaften lässt sich dieses Ideal bis heute kaum in die Praxis umsetzen.

Professor Reinhard Pollak ist einer der führenden Experten für soziale Mobilität in Deutschland. Im April 2018 empfing er in Berlin eine Delegation aus Wissenschaftlern der Hochschule des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei (Zentrale Parteihochschule), einer wichtigen Denkfabrik der chinesischen Regierung. Soziale Mobilität beschreibt Pollak als „den Wechsel einer Person von einer Position in der gesellschaftlichen Hierarchie auf eine andere Position.“ Bestimmend sind dabei Statusmerkmale wie Einkommen, Beruf oder Vermögen, die in der Regel eng miteinander verflochten sind. Wichtigste Grundlage sozialer Mobilität in der modernen Gesellschaft ist Bildung.

Wie die Mobilität ins Stocken geriet

In den ersten Jahrzenten nach Gründung der Bundesrepublik gab es in Deutschland viele Erfolgsbeispiele sozialen Aufstiegs. Grundlage war einerseits das deutsche Wirtschaftswunder, das zeitweise so viele Arbeitsplätze entstehen ließ, dass der Bedarf nur noch durch Zuwanderung gedeckt werden konnte.

Gleichzeitig veränderte sich die Gesellschaftsstruktur. Frauen kamen immer mehr in der Arbeitsgesellschaft an und konnten nun aus eigener Kraft sozialen Aufstieg verwirklichen. Auch die Berufsstruktur wandelte sich und die Gesellschaft insgesamt wurde durchlässiger. Eine zuvor ungekannte Bildungsexpansion schaffte die Grundlage für intergenerationale soziale Mobilität.

Die Unterschicht schrumpfte, die mittleren und oberen Schichten wuchsen an. Mit dieser zunehmend komfortablen sozialen Ausgangslage jedoch, wurde weiterer Aufstieg mit der Zeit immer schwieriger. Zudem mehrt sich seit einigen Jahrzenten die Zahl der gesellschaftlichen Abstiege. Eine gebremste – wenn auch weiterhin positive – wirtschaftliche Entwicklung verstärkt diesen Trend.

Die Durchlässigkeit der Gesellschaft kam ins Stocken und gerade Menschen am unteren Ende der sozialen Hierarchie können sich nur noch vereinzelt aus ihrer prekären Lage befreien.

Zu Zeiten der sozialistischen Planwirtschaft unter Mao waren in China fast alle Menschen arm. Große soziale Unterschiede gab es nicht. Die entfesselte Wirtschaftsentwicklung, die durch die Politik der Reform und Öffnung im Jahr 1978 eingeleitet wurde, eröffnete unzähligen Menschen neue Aufstiegschancen. In den folgenden 40 Jahren bildeten sich nach und nach neue Schichten heraus, die sich bis heute weiter verfestigen. Vor allem Kinder aus ländlichen Regionen und Kinder von Arbeitsmigranten bleiben ein gleichwertiger Bildungszugang und faire gesellschaftliche Aufstiegschancen zu oft verwehrt.

Bildungsgerechtigkeit durch Bildungsexpansion?

Wissen und Bildung gelten schon lange als Basis für kulturellen und ökonomischen Einfluss. Doch wie kann Bildungsgerechtigkeit erreicht werden? Eine Antwort ist die sogenannte Bildungsexpansion, die in China wie in Deutschland immer mehr Menschen den Zugang zu berufsqualifizierendem Wissen ermöglicht.

Exemplarisch zeigt sich dies an der Hochschulbildung. In Deutschland erhöhte sich die Zahl der Studierenden allein innerhalb der letzten 15 Jahre um rund 50 Prozent, in China sogar um mehrere hundert Prozent.

Der rapide Anstieg der Absolventenzahlen bringt China indes neue gesellschaftliche Probleme. Professor Xi Pinghua von der Zentralen Parteihochschule erklärte in Peking, wie immer mehr Absolventen keine geeignete Arbeitsstelle finden. Es gibt zu viele Absolventen und die erworbenen Qualifikationen gehen zu oft am Markt vorbei. Das Problem geht sogar so weit, dass ein Teil der Absolventen geringere Einkommen erzielt als die ländlichen Wanderarbeiter. Auf diese Weise kann Bildung kaum zur Steigerung sozialer Mobilität beitragen.

Doch auch in Deutschland stößt die mobilitätsfördernde Wirkung des Bildungssystems auf Grenzen. Der Bamberger Soziologe Professor Olaf Struck beschrieb das Problem als eine Art „Rolltreppeneffekt“: Zwar führt der Ausbau von Kindergärten, Schulen und Universitäten zu einem allgemeinen Anstieg der Bildungsniveaus, dennoch hängen Bildungschancen zu stark von der sozialen Herkunft ab. Wenn alle Schichten „eine Etage höher fahren“, bestehen die alten Ungleichheiten weiter.

Nach wie vor bestimmt daher weiter die soziale Herkunft die Teilnahme an Bildung: Von 100 Akademikerkindern nehmen in Deutschland heute 79 ein Studium auf und 45 erlangen einen Master. Von 100 Kindern von Nicht-Akademikern hingegen studieren nur 27 und gerade einmal acht erreichen einen Masterabschluss.

Frühkindliche Bildung als Schlüssel zum Erfolg

Doch wie kann die Logik der intergenerationalen Statusvererbung durchbrochen werden? Forschungen des amerikanischen Wirtschaftsnobelpreisträgers James Heckman haben ergeben, dass Förderung im Kleinkindalter die größten Erfolge bei verhältnismäßig geringen Ausgaben versprechen.

Bereits Dreijährige unterscheiden sich stark voneinander. Kinder aus besser gestellten Familien verfügen über ein größeres Vokabular und können komplexere Sätze verstehen. Zudem haben sie ein deutlich besseres Verständnis von Größen und Formen. Der Nutzen von Investitionen in dieser Entwicklungsphase wird verstärkt durch kumulative Bildungseffekte: Gelerntes fördert späteres Lernen. Auf diese Weise kann Herkunftsungleichheit am besten ausgeglichen werden.

Die Bundesregierung hat diesen Zusammenhang erkannt, weshalb es im Bereich der frühkindlichen Bildung in den letzten Jahren die prozentual höchsten Budgetzuwächse gab.

In China wäre ein umfassendes System frühkindlicher Bildung vor allem für die Kinder der vielen Arbeitsmigranten wichtig, denn diese sind nach wie vor großen strukturellen Benachteiligungen ausgesetzt. Während erste Reformen bereits angelaufen sind, regte Professorin Lin Mei von der Zentralen Parteihochschule an, noch mehr in öffentliche Kindergärten zu investieren, damit auch Wanderarbeiterkinder künftig einen verbesserten Zugang zu Betreuungsangeboten in den Städten erhalten.

Die Zivilgesellschaft kann wichtige Beiträge leisten

Die volkswirtschaftlichen Renditen von Bildungsinvestitionen nehmen ab, je älter die Zielgruppe. „Auf dem Weg in die Gesellschaft des moderaten Wohlstands“ aber darf laut Chinas Präsident Xi Jinping „nicht ein einziger Mensch zurückgelassen werden“. Der deutsche Sozialstaat teilt dieses Ideal.

Um problembehafteten Jugendlichen und Erwachsenen auf die Beine zu helfen, spielen in Deutschland gesellschaftliche Träger eine wichtige Rolle. Die Delegation der Zentralen Parteihochschule besuchte daher u.a. die gemeinnützige Organisation „Zukunftsbau GmbH“, die benachteiligten Berliner Jugendlichen eine zweite Chance ermöglicht. Derzeit rund 80 bis 90 Schüler aus meist prekären Verhältnissen werden unterstützt, einen Schulabschluss nachzuholen und berufliche Orientierung zu finden.

Da zivilgesellschaftliche Organisationen in China diese Aufgaben bislang kaum übernehmen können, muss der Staat größere Lasten als in Deutschland tragen. Stipendien, Studiengebührenerlass und weitere staatliche Maßnahmen sollen Kindern aus finanzschwachen Familien eine bessere Zukunft eröffnen. Reformen des Haushaltsregistrierungssystems sollen gut ausgebildeten Arbeitsmigranten gleichwertige Entwicklungschancen in den Städten ermöglichen.

Bei allen Unterschieden haben die Fördermaßnahmen in Deutschland und China jedoch eines gemein: Das höchste Ziel der staatlichen Sozial-, Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik ist die Herstellung von Chancengleichheit. Der Staat kann nur die Voraussetzungen schaffen, die soziale Leiter muss jeder Mensch aus eigener Kraft erklimmen.

Autor: Dominik Sprenger