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Gastvorlesungen zur deutschen Migrations- und Flüchtlingspolitik

Flucht und Migration sind weltweite Megatrends, die im Zuge der jüngsten Krisen auch Deutschland vor immense Herausforderungen stellen. Chancen und Risiken für Wirtschaft und Gesellschaft sowie Einstellungen der deutschen Bevölkerung standen nun im Zentrum dreier Veranstaltungen an HSS-Partnerorganisationen in Peking.

Dr. Günter Schucher

Dr. Günter Schucher, Senior Research Fellow am GIGA-Institut für Asienstudien, besuchte vom 17. bis 19. November 2016 die Pekinger Gesellschaft für Vergleichende Internationale Studien, die Altstipendiatenvereinigung der HSS sowie die Fremdsprachenuniversität Peking und hielt dort jeweils einen Vortrag zum Thema "Migranten, Flüchtlinge und Asylbewerber: Kann Deutschland noch mehr aufnehmen?“.

Demografischer Wandel und Migration gelten als Megatrends, so Schucher einleitend. Nach UN-Statistiken befanden sich im Jahr 2015 weltweit circa 65 Millionen Menschen auf der Flucht. Teil dieser Entwicklungen ist die aktuelle europäische Flüchtlingskrise, die Deutschland einerseits vor immense gesellschaftliche Herausforderungen stellt, gleichzeitig aber auch langfristige Chancen für die demografische und wirtschaftliche Entwicklung bietet.  Auch in China, wo über 200 Millionen Binnenmigranten einen entscheidenden Teil zur Wirtschaftsleistung beitragen, erfährt das Thema große Aufmerksamkeit.

Flüchtlinge nützen der deutschen Wirtschaft, Quelle: Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung

Zuwanderung soll gesteuert werden

In der EU besteht schon seit Längerem das Bewusstsein, dass Migration gebraucht wird. Gleichzeitig soll unter anderem durch die gemeinsame Kontrolle der EU-Außengrenzen ein unkontrollierter Zuzug verhindert werden. Während es auch in Deutschland schon lange Zuwanderung gibt, begreift sich die Bundesrepublik erst seit einigen Jahren auch im öffentlichen Diskurs als Einwanderungsland. Der Weg zu dieser Erkenntnis war ein langwieriger und mühsamer gesellschaftlicher Prozess. Heute verfügt rund ein Fünftel der deutschen Bevölkerung über einen Migrationshintergrund, die Hälfte davon hat die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen.

Schon seit den 1950er Jahren gab es in der Bundesrepublik mehrere politisch gesteuerte Einwanderungswellen durch die Anwerbung italienischer, türkischer und weiterer europäischer Arbeitnehmer. Heute bemüht sich Deutschland vor allem um die Rekrutierung hochqualifizierten Fachpersonals. Als Anwerbeinstrument für Fachkräfte aus Drittstaaten hat die Europäische Union die sogenannte „Blaue Karte“ eingeführt. Diesen langfristigen Aufenthaltstitel nach Vorbild der US-amerikanischen Green Card verleiht die Bundesrepublik dabei wesentlich öfter als jeder andere EU-Staat und unterstreicht damit ihr Bekenntnis zu einer proaktiven Zuwanderungspolitik.

Im Gegensatz zur Arbeitsmigration sind Flüchtlingszuströme weitaus schwieriger zu regulieren. Im Laufe der aktuellen Flüchtlingskrise nahm Deutschland in absoluten Zahlen die meisten Personen auf, wenn auch relativ zur Bevölkerung Länder wie Österreich oder Schweden einen noch größeren Beitrag leisteten. In Großbritannien, wo Migration ein wichtiger Faktor bei der Entscheidung zum Brexit war, wurden dagegen nur vergleichsweise wenige Schutzsuchende aufgenommen.

Die Deutschen sehen Muslime weniger negativ als andere EU-Bürger, Quelle: Pew Research Center

Studien sehen langfristigen wirtschaftlichen Nutzen

Im Zuge des demografischen Wandels wird die deutsche Bevölkerung immer älter und schrumpft zusehends. Studien zufolge würde die arbeitende Bevölkerung ohne Einwanderung von derzeit rund 55 Millionen auf nur noch 40 Millionen Menschen im Jahr 2050 zurückgehen. Um die Anzahl der Erwerbstätigen in etwa stabil zu halten, bedarf es demnach künftig einer jährlichen Zuwanderung von rund einer halben Million Menschen. Mit Blick auf den Arbeitsmarkt ist Zuwanderung also notwendig, so Schucher.

Die in den letzten Jahren eingereisten Flüchtlinge sind im Durchschnitt weit jünger als die deutsche Bevölkerung. Unternehmensverbände haben deren Ankunft daher ganz überwiegend begrüßt und die Betriebe zur Integration aufgerufen. Auch das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) sieht einen langfristigen Nutzen für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung. Nach anfänglichen Kosten für die Existenzsicherung und Integration wird mittelfristig ein Zugewinn durch Arbeit und Konsum der Neuankömmlinge prognostiziert. Selbst im pessimistischsten Szenario wird damit gerechnet, dass der Nutzen für die deutsche Wirtschaft bereits ab 2025 die Kosten für die Versorgung der heutigen Flüchtlinge übersteigen wird, auch bei Berücksichtigung von Sozialleistungen für unbeschäftigte Flüchtlinge.

Probleme gibt es allerdings mit Blick auf die Integration am Arbeitsmarkt. Während viele Unternehmen zunächst sehr positiv reagierten, stellten sie bisher deutlich weniger Flüchtlinge ein als erhofft. Als größtes Hemmnis werden unzureichende Sprachkenntnisse genannt, gefolgt vom Qualifikationsniveau und aufenthaltsrechtlichen Restriktionen. Diese Faktoren werden sich, zumindest kurzfristig, negativ auf das Wirtschaftswachstum auswirken.

Teilnehmer der Veranstaltung an der Pekinger Fremdsprachenuniversität

Eine umfassende Integrationsstrategie liegt noch nicht vor

Im Anschluss an Schuchers Vorträge ergaben sich kontroverse und differenzierte Diskussionen. Weiter erörtert wurden darin Fragen der gesellschaftlichen Akzeptanz von Flüchtlingen, Probleme der inneren Sicherheit und politische Steuerungsmöglichkeiten.

Unter anderem interessierten sich die Veranstaltungsteilnehmer für die Frage eines möglichen Anstiegs von Kriminalität aufgrund des Flüchtlingszuzugs. Genannt wurden in diesem Zusammenhang die Vergewaltigungen zweier chinesischer Studentinnen in Deutschland sowie die Vorfälle in der Silvesternacht 2015 in Köln. In diesem Zusammenhang zitierte Schucher Statistiken des Bundes Deutscher Kriminalbeamter, die belegen, dass Migranten im Schnitt nicht krimineller sind als Deutsche. Gleichwohl spielen Gewalttaten, die sich in den meisten Fällen gegen andere Flüchtlinge richten, in der Tat eine überproportional große Rolle.

Als wichtigstes innenpolitisches Steuerungselement machte ein Diskutant daraufhin die Integrationspolitik aus und auch Schucher hob die zentrale Bedeutung einer durchdachten sozialpolitischen Strategie hervor. Hinsichtlich neuer Herausforderungen sollte Deutschland aus seinen Erfahrungen mit früheren Einwanderungswellen lernen und mit neuen Weichenstellungen Problemen vorbeugen. Da allerdings bislang noch keine umfassende Integrationsstrategie entwickelt werden konnte, bleibt deren Ausarbeitung eine ganz entscheidende politische und gesellschaftliche Aufgabe.

Bei der Pekinger Gesellschaft für Vergleichende Internationale Studien

Interessiert an den außenpolitischen Handlungsoptionen der Bundesregierung, warf eine Studentin die Frage auf, ob Deutschland nicht auch eine gewisse Mitverantwortung für den Ausbruch der Flüchtlingskrise trägt. Schucher betonte daraufhin, dass eine langfristige Veränderung tatsächlich nur im internationalen Kontext erzielt werden kann. Der Fokus muss dabei auf der Bekämpfung der Fluchtursachen liegen. Gerade in Syrien ist die Lage jedoch äußerst verfahren und die Einflussmöglichkeiten der Bundesregierung sind dementsprechend gering. Mehr Beachtung sollte daher vor allem dem Umstand geschenkt werden, dass der Großteil der Flüchtlinge in direkten Nachbarländern aufgenommen wird. Diese müssten von der internationalen Gemeinschaft in weitaus höherem Maße finanziell unterstützt werden.

Eine weitere kritische Frage aus dem Publikum bezog sich auf das Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei. Eine Teilnehmerin wollte wissen, inwiefern sich die Rücksendung von Flüchtlingen mit dem Grundrecht auf Asyl und dem deutschen Menschenrechtsverständnis vereinbaren lässt. Tatsächlich ist die Menschenrechtslage in der Türkei, so Schucher, nicht unproblematisch, weshalb es in Deutschland auch einige Kontroversen rund um die Vereinbarung gibt. Schließlich überwiegt seiner Meinung nach jedoch die politische Notwendigkeit einer Kooperation mit der Türkei in der Flüchtlingsfrage.

In allen drei Veranstaltungen, auf denen Schucher seinen Vortrag hielt, wurde deutlich, wie gut die Studierenden und Teilnehmer aus Wissenschaft und Politik über die aktuelle Situation in Deutschland und die Hintergründe informiert waren. In ihren jeweiligen Schlussworten wiesen die Veranstalter dann noch einmal darauf hin, dass viele der aktuellen Probleme globale Lösungen erfordern, und es daher wichtig ist, immer wieder das Gespräch zu suchen. Während sich in China die breite Öffentlichkeit ihre Meinung überwiegend auf Grundlage mehrheitlich kritisch berichtender Medien bildet, vermittelten die Ausführungen von Dr. Schucher dagegen ein vielschichtiges Bild der Thematik und ein tieferes Verständnis der deutschen Denk- und Handlungsweisen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.