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Vortrag an der Chinesischen Universität für Politik- und Rechtswissenschaften
Die Bundesstaatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland

Vor allem in den aktuellen Pandemiezeiten wird in Deutschland immer wieder das Föderalismus-Prinzip diskutiert. Oft steht es dabei sinnbildlich für langfristige und komplizierte Entscheidungsprozesse. Andererseits gilt das föderalistische Prinzip als eines der wichtigsten Charakteristiken der Bundesrepublik Deutschland. Viele andere Staaten wie bspw. China hingegen nutzen ein zentralistisches System mit einer starken Machtkonzentration in Peking.

Um chinesischen Master-Studierenden die geschichtlichen Hintergründe und die politischen Details des bundesstaatlichen Prinzips in Deutschland näherzubringen, hielt der international renommierte Rechtswissenschaftler Dr. Jürgen Harbich am 17. Juni einen Online-Vortrag.

 

Auf Einladung der Hanns-Seidel-Stiftung (HSS) und der Chinesischen Universität für Politik- und Rechtswissenschaften (CUPL) hielt Dr. Dr. h. c. Jürgen Harbich (Vorstand der Bayerischen Verwaltungsschule a. D.) am 17. Juni einen Online-Vortrag, in dem er chinesischen Masterstudierenden der Rechtswissenschaften das bundesstaatliche Prinzip der Bundesrepublik Deutschland erläuterte. Prof. Xie Libin (Leiter des Deutsch-Chinesischen Rechtsinstituts an der CUPL) und Frau Prof. Zhao (Professorin für Öffentliches Recht an der Law School der CUPL) gaben anschließend Kommentare, in denen sie unter anderem auch auf das chinesische System eingingen. Im Anschluss konnten sich die Studierenden in einer Diskussionsrunde mit Fragen an die Experten wenden.

Föderalismus mit langer Tradition in Deutschland

Deutschland bzw. die Vorgängerstaaten wenden– mit Ausnahme während der Zeit des Nationalsozialismus -  schon seit 150 Jahren in unterschiedlichen Ausprägungen ein föderatives System an. Nach 1949 war zunächst nur die westdeutsche Bundesrepublik ein föderaler Staat, nach der Wiedervereinigung wurde das System jedoch für die gesamtdeutsche Bundesrepublik mit den bis heute bestehenden 16 Bundesländern übernommen.

Was genau meint der Begriff im rechtlichen Sinne aber? Ein Bundesstaat ist ein staatsrechtlicher Zusammenschluss von Staaten, in dem sowohl der Staatenverband als auch die einzelnen Glieder die rechtliche Qualität eines Staates haben. Der Bundesstaat ist demnach ein Staat, der aus einzelnen Teilstaaten zusammengesetzt ist. Der Bund  -  häufig auch Zentralstaat genannt  -  übt ebenso wie die Gliedstaaten Hoheitsgewalt unmittelbar gegenüber den Angehörigen der Gliedstaaten aus. Auf die in einem Bundesstaat lebenden Menschen wirken daher zwei Staatsgewalten unmittelbar ein: die Bundesgewalt und die Gewalt eines Gliedstaates. Eine gesamtstaatliche Verfassung verteilt im Bundesstaat die Gesamtheit der staatlichen Aufgaben und Befugnisse zwischen Organen des Bundes und denen der Länder.

In der Regel kennen die Bundesstaaten neben der gesamtstaatlichen Volksvertretung ein föderatives Organ, eine sog. Zweite Kammer, die die Aufgabe hat, die Interessen der Gliedstaaten zu vertreten. In Deutschland sind in diesem Bundesrat die Regierungen der 16 Länder vertreten.  Über den Bundesrat ist den Ländern garantiert, bei der Gesetzgebung des Bundes mitzuwirken. Etwa 40 Prozent der Bundesgesetze bedürfen der Zustimmung des Bundesrates (Zustimmungsgesetze). In den übrigen Fällen kann der Bundesrat gegen ein vom Bundestag beschlossenes Gesetz lediglich Einspruch erheben, den der Bundestag allerdings zurückweisen kann (Einspruchsgesetz).

Zusammenwirken zwischen Bund und Ländern

Nach dem Grundsatz des Art. 30 GG ist die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben Sache der Länder, soweit das Grundgesetz keine andere Regelung trifft oder zulässt. Der Bund muss sich also, wenn er tätig werden will, auf eine konkrete Norm des Grundgesetzes stützen, während die Länder immer dann zuständig sind, wenn dem Bund keine Kompetenz zusteht.

Der Schwerpunkt des Gesetzgebungsrechts liegt beim Bund. Art. 73 GG enthält einen Katalog von etwa 20 Gebieten, über die der Bund das ausschließliche Gesetzgebungsrecht hat, z.B. auswärtige Angelegenheiten, die Verteidigung oder das Passwesen.

74 GG weist dem Bund auf mehr als 30 Gebieten das konkurrierende Gesetzgebungsrecht zu. Das bedeutet, dass die Länder in diesem Bereich das Gesetzgebungsrecht nur ausüben dürfen, „solange und soweit der Bund von seiner Gesetzgebungszuständigkeit nicht durch Gesetz Gebrauch gemacht hat“ (Art. 72 Abs. 1 GG). Dieser Artikel gilt u.a. für das bürgerliche Recht, das Strafrecht oder das Aufenthalts- und Niederlassungsrecht der Ausländer.

Wenn sich dem Grundgesetz eine Gesetzgebungskompetenz des Bundes nicht entnehmen lässt, steht das Gesetzgebungsrecht den Ländern zu - eine ausdrückliche Zuweisung an die Länder kennt das Grundgesetz nicht. Ein prominentes Beispiel hierfür ist das Bildungswesen.

In der Exekutive ist das föderative Prinzip besonders stark ausgeprägt, da man davon ausgeht, dass eine dezentralisierte Verwaltung diese sachgerechter und lebensnäher beurteilen kann als eine zentrale Verwaltung („Exekutivföderalismus“).

Auch die Judikative ist zwischen Bund und Ländern aufgeteilt. Die obersten Gerichtshöfe des Bundes bilden hier für die Rechtszüge der Gerichtsbarkeiten der Länder die Revisionsinstanzen und geben damit dem einzelnen Bürger eine Garantie, dass seine Rechte und Pflichten unabhängig davon sind, in welchem Land er seinen Prozess führt.

Argumente für den Föderalismus

Es gibt diverse gute Gründe für die Anwendung des föderativen Prinzips.  Das Subsidiaritätsprinzip geht zum Beispiel davon aus, dass das, was der einzelne aus eigener Initiative leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gemeinschaft übertragen werden darf. Die Gemeinschaft ist jedoch zur Hilfeleistung verpflichtet, wenn sie der einzelne nötig hat. Dieser Gedanke wird als Strukturprinzip auch auf die staatliche Organisation übertragen.

Da in einem Bundesstaat die staatlichen Kompetenzen zwischen Bund und Ländern geteilt sind, wirkt die Bundesstaatlichkeit auch als vertikale Gewaltenteilung: Sie verhindert eine übermächtige Einheitsbürokratie und verstärkt damit die freiheitssichernde horizontale Gewaltenkontrolle. Aus geschichtlichen Gründen herrscht in den einzelnen Ländern durchaus noch ein starkes regionales Traditionsbewusstsein, was eine komplette Abgabe aller Zuständigkeiten an den zentralen Bund erschweren würde. Auf den Gebieten der Länderzuständigkeiten können die Gliedstaaten eigene Wege beschreiten und auf diese Weise mit den anderen Gliedern des Bundesstaates um die beste Lösung ringen (Wettbewerbsföderalismus). Zudem bietet das föderative Modell mehr Chancen für politische Minderheiten. Ist zum Beispiel eine Partei auf Bundesebene über Jahre in der Opposition, kann sie unter Umständen auf Länderebene weiterhin an der (Länder-)Regierung beteiligt sein und so weiter Erfahrung und Selbstbewusstsein sammeln.

 

Auch für die Möglichkeit, die Verfassung (das Grundgesetz) zu ändern, ist Deutschlands Föderalismus wichtig, denn auf Erfahrungen und neue Entwicklungen in Staat und Gesellschaft oder Wissenschaft und Technik muss auch die staatliche Grundordnung reagieren können. Die Verfassung ist in der Hierarchie der innerstaatlichen Rechtsordnung jedoch die höchste Norm und infolgedessen mit höherer Bestandskraft ausgestattet als die übrigen Rechtsnormen. Zur Lösung dieses „Problems“ hat das Grundgesetz den Bundestag zusammen mit dem Bundesrat als verfassungsändernden Gesetzgeber eingesetzt. Das Grundgesetz verlangt für eine Verfassungsänderung übereinstimmende Beschlüsse von Bundestag und Bundesrat, die mit qualifizierter Mehrheit (zwei Dritteln in beiden Kammern) zu fassen sind. Allerdings setzt das Grundgesetz, das aus der nationalsozialistischen Vergangenheit entsprechende Konsequenzen gezogen hat, dem verfassungsändernden Gesetzgeber ausdrücklich Schranken: Art. 79 Abs. 3 GG („Ewigkeitsklausel“) erklärt eine Änderung des Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 (Unantastbarkeit der Menschenwürde) und 20 (wesentliche Prinzipien des demokratischen und sozialen Rechtsstaates) niedergelegten Grundsätze berührt werden, für unzulässig. Dass die Gliederung des Bundes in Länder garantiert ist, heißt jedoch nicht, dass die genauen Grenzen der Länder für ewig garantiert sind, genauer gesagt: die Existenz der gegenwärtig bestehenden Länder ist nicht garantiert. Lediglich die bundesstaatliche Struktur als solche ist unverbrüchlich.

 

Das bundesstaatliche Prinzip scheint in der deutschen Bevölkerung größtenteils auf Zustimmung zu treffen. Auch wenn es stets Stimmen gibt, die den Staat und das Handeln seiner Organe kritisieren, ist generell keine Strömung gegen die Bundesstaatlichkeit erkennbar.

China – ein komplett anderes System oder nur relative Unterschiede?

Prof. Xie Libin betont, dass das 1871 gegründete Deutsche Reich mit seiner föderalen Struktur damals noch eine Ausnahme in Europa war, während heute das Verhältnis aus Einheits- und Föderalstaaten fast ausgeglichen ist. Die Vereinigten Staaten von Amerika waren damals ein großer Einfluss für die deutschen Staatsgründer. Auch bei der Gestaltung des Grundgesetzes nach dem Zweiten Weltkrieg war der Einfluss der USA natürlich sehr groß.

Natürlich befindet sich das föderale System in Deutschland jedoch stets in einem dynamischen Prozess, ein Beispiel ist der (letztlich gescheiterte) Versuch der Zusammenlegung von Berlin und Brandenburg.

Auch Chinas Staatsgründer Mao Zedong hatte 1949 zunächst die Idee verfolgt, die Volksrepublik China als einen föderalen Staat zu gründen, nahm dann nach intensiven Untersuchungen und Beratungen jedoch Abstand davon. Doch trotzdem gibt es auch in China Elemente des föderalen Systems. Ein Beispiel sind Pilotprogramme für neue Wirtschafts-  bzw. Verwaltungsmodelle oder Reform- und Öffnungsschritte, die häufig zunächst auf unteren Verwaltungsebenen getestet werden und bei Erfolg dann auf das ganze Land ausgeweitet werden. Auch im Steuersystem sind föderalistische Merkmale zu beobachten, da die Einnahmen aus bestimmten Steuerarten den Provinzen zugutekommen, wodurch ihnen eine gewisse finanzielle Unabhängigkeit ermöglicht wird. Auch die Autonomen Regionen ethnischer Minderheiten, wie zum Beispiel das Autonome Gebiet Guangxi der Zhuang-Nationalität, sind Beispiele für eine föderalistische Struktur. Noch weiter geht es bei den Sonderverwaltungszonen Hongkong und Macao, die nur in den Bereichen Verteidigung und Außenpolitik nicht eigenständig sind, sonst aber sehr viele eigene Rechte genießen, inklusive eigener Währungen. Auch Prof. Zhao Hong betonte, wie wichtig das föderale Prinzip in Deutschland ist. Vor allem das Subsidiaritätsprinzip ist ein Bestandteil, der auch in China viel diskutiert wird, vor allem in Zeiten der Pandemie. So wenden die unterschiedlichen Provinzen und Städte häufig unterschiedliche Epidemie-Bekämpfungsmaßnahmen an.

Wie Prof. Xie betont daher auch Prof. Zhao, dass China zwar ein Zentralstaat ist, jedoch gleichzeitig in vielen Fällen ebenfalls auf Elemente des Föderalismus zurückgreift. Die Frage, ob es sich um einen Zentral- oder Föderalstaat ist daher Prof. Zhao zufolge stets eine relative Frage.

Autor: Ole Engelhardt