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Rechtswissenschaftlicher Austausch in Peking
Die Auslegung von Gesetzen

Gesetze verleihen dem deutschen Rechtstaat eine stabile Grundlage. Doch es braucht auch Richter, die dem in Textform kodifizierten Recht leben verleihen. Während der Wortlaut des Gesetzes über Generationen hinweg unverändert bleiben kann, befinden sich Gesellschaften in einem ständigen Wandlungsprozess. Um sich diesem anzupassen, und das Recht immer weiter fortzuentwickeln, braucht es Richter, die Gesetze anhand einheitlicher und transparenter Kriterien auslegen.

Es war einmal ein Schäfer, der hatte drei Söhne. In seinem Testament vermachte er ihnen seine Schafe. Der Erstgeborene sollte die Hälfte bekommen, der Mittlere ein Viertel und der Jüngste ein Sechstel. Als der Schäfer starb, hinterließ er elf Schafe. Weil die Söhne nicht wussten, wie sie dem Willen des Vaters gerecht werden sollten, suchten sie den Rat eines weisen, erfahrenen Richters. Dieser zögerte nicht, ihnen zu helfen. Auch der Richter hatte ein Schaf, das er zur Lösung des Falles heranzog. So wurden aus elf Schafen zwölf: Der erste Sohn bekam mit sechs Schafen die Hälfte, der zweite mit drei Schafen ein Viertel und der dritte Sohn mit zwei Schafen ein Sechstel des wollenen Nachlasses. Zusammen kamen sie so wieder auf elf Schafe und das zwölfte, das des Richters, kam noch einmal ungeschoren davon.

Auch Juristen brauchen Einfallsreichtum, gerade bei der Auslegung von Gesetzen. Das verdeutlichte Dr. Dr. h. c. Jürgen Harbich, Vorstand der Bayerischen Verwaltungsschule a.D., als er mit diesem ungewöhnlichen Fallbeispiel die Aufmerksamkeit chinesischer Studierender in Peking weckte.

Zwar ist der Richter an das Gesetz gebunden, doch auf der anderen Seite darf er auch nicht zu sehr am Buchstaben des Gesetzes kleben. Sprache ist mehrdeutig, ungenau und wandelbar. Wissenschaft, Technik und gesellschaftliche Werte sind in einem ständigen Veränderungsprozess begriffen. All dies muss der Richter in die Urteilsfindung einbeziehen. Bei seiner Entscheidung stehen ihm unter anderem folgende Auslegungsmethoden zur Verfügung:

Teilnehmer an der Beihang-Universität

Auslegungsmethoden

Auslegung nach dem Wortsinn: Jede Auslegung hat beim Wortlaut des Gesetzes anzusetzen. Die Auslegung gegen den Wortlaut des Gesetzes ist nicht zulässig. In besonders klaren Fällen kommt nur eine strikte Anwendung nach dem Wortsinn in Frage, etwa wenn das Gesetz explizite Grenzwerte vorgibt. So lassen Vorgaben bezüglich des Gewichts von Kraftfahrzeugen oder Geschwindigkeitsbegrenzungen im Straßenverkehr keinen Raum für Interpretationen.

Systematische Auslegung: Die systematische Auslegung beschreibt eine Erklärung der Gesetze aus dem Bedeutungszusammenhang. Gesetze verwenden teilweise ein und denselben Begriff an verschiedenen Stellen. Doch ist deshalb auch in jedem Fall dasselbe gemeint? Wenn sich beispielsweise ein Kunde in einem Geschäft ein Buch aussucht und mit diesem Buch in der Hand an der Kasse gefragt wird: „Möchten Sie dieses Buch haben?“, und der Kunde mit „ja“ antwortet, so ist über das Buch ein Kaufvertrag zustande gekommen.Wenn aber jemand zu einem Abendessen eingeladen ist und auf die Frage des Gastgebers, ob er noch ein Glas Wein haben möchte, mit „ja“ antwortet, so wäre er überrascht, wenn er anschließend dafür zur Kasse gebeten würde. In diesem Fall ist kein Kaufvertrag, sondern ein Schenkungsvertrag geschlossen worden. In beiden Fällen wird das Wort „haben“ verwendet. Je nach Zusammenhang erhält es jedoch eine unterschiedliche rechtliche Bedeutung.

Historische Auslegung: Die historische Auslegung versucht, den Gehalt und Zweck gesetzlicher Vorschriften aus der Entstehungsgeschichte zu ermitteln. Wenn zum Beispiel eine Rechtsvorschrift den Begriff „Familie“ verwendet, so kann die Frage auftreten, ob „Familie“ im engeren oder im weiteren Sinn zu verstehen ist. Soll der Begriff „Familie“ nur Eltern und deren Kinder umfassen oder auch andere Verwandte, wie Enkel, Nichten und Neffen? Der Wortlaut ist unklar. Aber die historische Auslegung kann zu einem vernünftigen Ergebnis führen. Es geht dabei um die Ermittlung der rechtspolitischen Absichten und Ziele derer, die maßgeblichen Einfluss auf die Rechtsetzung hatten, in Deutschland also in erster Linie das Parlament.

Sinngemäße Auslegung: Gesetze sind so auszulegen, wie es dem Gesetzeszweck dient. Der Gesetzeszweck ergibt sich in der Regel aus der Entstehungsgeschichte des Gesetzes. Doch die Entstehung kann Jahrzehnte oder sogar über 100 Jahre zurückliegen. Die Auslegung einer Gesetzesnorm kann nicht für immer bei dem Sinn stehen bleiben, der ihr zu ihrer Entstehungszeit beigelegt wurde. Vielmehr ist zu berücksichtigen, welche vernünftige Funktion die Gesetzesnorm zum Zeitpunkt der Anwendung haben kann. Ein Beispiel sind gleichgeschlechtliche Partnerschaften: Lange Zeit als Verstoß gegen das Sittengesetz interpretiert, gelten homosexuelle Partnerschaften heute nicht mehr als sittenwidrig. Die Zeiten haben sich geändert und mit ihnen das Sittengesetz, obwohl der Wortlaut des Gesetzes gleichgeblieben ist.

Die verschiedenen Auslegungskriterien sind in keiner Rechtsnorm geregelt und bestehen gleichberechtigt nebeneinander. Auch daher kommt der Urteilsbegründung eine besondere Bedeutung zu. Diese kann die Bürger nur überzeugen, wenn das Gericht seine Überlegungen, Argumente und Schlussfolgerungen plausibel darlegt. Die Autorität eines Gerichts lebt von der Qualität seiner Entscheidungsbegründungen. Schließlich geht es darum, die Menschen zu überzeugen, statt ihnen einfach Gehorsam abzuverlangen.

 

Autor: Dominik Sprenger