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Die Pandemie als Herausforderung an den Strafprozess
6. Deutsch-Chinesisches Strafrechtssymposium

Am 29. November 2020 fand der zweite Teil des von der Hanns-Seidel-Stiftung (HSS) und der Universität der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften (UCASS) gemeinsam organisierten 6. Deutsch-Chinesischen Strafrechtssymposiums statt. Dieses Mal tauschten sich chinesische Juristen mit Prof. Dr. Hans Kudlich auf der Online-Konferenz darüber aus, welche Herausforderungen die Corona-Pandemie an das Strafprozessrecht in China und Deutschland stellt.

Die Corona-Pandemie bedeutet zweifelsohne eine Zäsur, doch nichtsdestotrotz müssen auch in dieser speziellen Zeit essentielle Vorgänge aufrechterhalten werden - dazu zählt auch ein funktionierendes Strafrechtssystem. Die Kontaktbeschränkungen, die zur Eindämmung der Virus-Ausbreitung unerlässlich sind, machen es dabei jedoch unmöglich, das traditionelle Strafrechtsverfahren, das unter anderem die Zusammenkunft vieler Menschen im Gerichtssaal vorsieht, wie gewohnt aufrechtzuerhalten. Am zweiten Tag des 6. Deutsch-Chinesischen Strafrechtssymposiums tauschten sich chinesische Experten und der deutsche Professor Dr. Hans Kudlich (Universität Erlangen-Nürnberg) deshalb darüber aus, wie Deutschland und China auf diese Herausforderung reagieren.

Wie löst Deutschland das „Trilemma“?

Prof. Kudlich betonte eingangs, wie wichtig es ist, das Rechtssystem bei allen berechtigen existentiellen Sorgen auch während dieser lebensbedrohenden Krise nicht zu vernachlässigen.  Gerade jetzt bleibe es eine „notwendige Begleitmelodie zur Durchsetzung einer Vielzahl von relevanten Entscheidungen“. Durch seine Normen schafft es auch zu einem gewissen Grad Stabilität.

Das sich aus der Corona-Pandemie für das Strafrecht ergebende Problem beschreibt er als „Trilemma“: Einerseits wächst der Druck auf diesen Justizzweig durch die Entstehung neuer Straftatbestände (z.B. Verletzung von Hygiene-Vorschriften). Aber auch bezüglich der nicht-pandemiespezifischen Kriminalität ist eine konsequente Verfolgung von Straftaten eine wichtige Voraussetzung normativer Stabilität innerhalb der Bevölkerung. Dem stehen jedoch Infektionsrisiken bei der üblichen Durchführung von – nicht beliebig lange verschiebbaren – Gerichtsverfahren entgegen, die häufig zwangsläufig den Social-Distancing-Vorschriften widersprechen. Der dritte Pol ist die traditionell geltende – und wiederum aus Gründen des Beschuldigtenschutzes unbedingt wünschenswerte – Formstrenge des Strafverfahrens, das grundsätzlich nur wenige Abweichungen von den jeweils vorgesehenen Verfahrensstrukturen zulässt.

Ein sehr wichtiger Teil des Strafrechts, den es bei möglichen Anpassungen zu schützen gilt, ist der „Öffentlichkeitsgrundsatz“ nach § 169 GVG, der zu den grundlegenden Einrichtungen des Rechtstaates gehört und eine Art „Geheimjustiz“ verhindern soll. Allerdings erlaubt das Recht gewisse Einschränkungen, zum Beispiel durch tatsächliche Gegebenheiten, wie beispielsweise eine limitierte Anzahl der zur Verfügung stehenden Sitzplätze im Gerichtssaal. Prof. Kudlich warf die Frage auf, ob die staatlich angeordneten Ausgehbeschränkungen in einigen Bundesländern als Reaktion auf die Pandemie eine Verletzung dieses Öffentlichkeitsgrundsatzes darstellen. In Bayern zum Beispiel wurde der Besuch einer Gerichtsverhandlung nicht explizit als „triftiger Grund“ genannt, der es Privatpersonen erlauben würde, ihr Haus zu verlassen. Medienvertretern war der Zugang dagegen erlaubt, da es Teil ihrer Berufsausübung ist. Liefern derartige Ausgehbeschränkungen, fragte Prof. Kudlich weiter, damit automatisch einen Revisionsgrund nach § 338 Nr. 6 StPO? Eine abschließende Antwort darauf gibt es noch nicht, allerdings vermutet Prof. Kudlich, dass ein Revisionsgericht u.a. wegen der so in Deutschland bislang noch nicht gekannten Sondersituation das Urteil aufrechterhalten, einer Revision also nicht stattgeben würde.

Welche Möglichkeiten hat Deutschland grundsätzlich, um dieses „Trilemma“ zu lösen?

Als mögliche Antworten stellte Prof. Kudlich neben Gesetzesänderungen oder der einschränkenden Interpretation entsprechender Garantien verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten vor. Zum Beispiel könnten durch das Hausrecht des jeweiligen Gerichts sichernde Maßnahmen für die Prozessbeteiligten und insbesondere etwaige Zuschauer, wie zum Beispiel eine Maskenpflicht oder Selbstauskünfte, angeordnet werden. Außerdem könnten, sofern der Beschuldigte keinen Einspruch erhebt, das sogenannte „Strafbefehlsverfahren“ (als rein schriftliches Verfahren ohne mündliche Hauptverhandlung) genutzt oder der Einsatz digitaler Technologien verstärkt werden. Analog zum Bildungssektor ist es sogar denkbar, dass auch das Justizwesen durch die Pandemie einen Digitalisierungsschub erfährt.

Voraussetzung für den Antrag auf Erlass eines schriftlichen Strafbefehls ist, dass eine Hauptverhandlung weder für eine weitere Aufklärung noch aus spezial- oder generalpräventiven Gesichtspunkten erforderlich ist. Strafbefehle sind nicht auf Bagatelldelikte beschränkt, mit ihnen können für Vergehen (d.h. minderschwere Straftaten) auch Freiheitsstrafen von bis zum einem Jahr auf Bewährung verhängt werden. 2018 wurden bei 9,8% der circa 5,6 Millionen Beschuldigten ein solcher Erlass beantragt – 75% dieser Anträge erwuchsen in Rechtskraft.

Ein gesetzeskonformer Weg, mehr Verfahren im Wege eines Strafbefehls zu erledigen, könnte nur in einer Ausweitung dessen Anwendungsbereichs liegen, beispielsweise eine Freiheitsstrafe ohne Bewährung zuzulassen, die Anwendung auch auf Verbrechen (anstatt nur Vergehen) auszudehnen oder auch die Verhängung von einer Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren auf Bewährung zu erlauben. Diese Möglichkeiten wurden bereits vor der Pandemie regelmäßig diskutiert, Prof. Kudlich schätzt die Möglichkeit auch unter den aktuellen Gegebenheiten, dass sie zu Realität werden, jedoch eher als gering ein.

Abgesehen von dem potenziellen Verzicht auf eine persönliche Hauptverhandlung gibt es auch Mittel, mit denen das Gericht die Ansteckungsgefahr während einer Verhandlung minimieren kann. Das Hausrecht ermächtigt den Gerichtspräsidenten als Behördenleiter beispielsweise, Maßnahmen zu treffen, die der Gewährleistung eines geordneten Geschäftsablaufs außerhalb des Sitzungsbereiches dienen. Hierzu kann man auch die Verringerung des Ansteckungsrisikos während einer Pandemie zählen. Die Maßnahmen könnten Eingangskontrollen oder Selbstauskünfte mit Kontaktdaten oder zum Aufenthalt in einem Risikogebiet beinhalten. Auch die Anordnung, dass Einlass nur mit Nasen- und Mundschutz zu gewähren ist, kann getroffen werden. Hinzu kommen organisatorische Maßnahmen, wie das Aufstellen von Infektionsspendern, die Anordnung von Mindestabständen oder die Anordnung der Sitzplätze im Sitzungssaal - all diese Maßnahmen sind rechtlich unbedenklich. Der Gerichtsvorsitzende kann zudem vergleichbare Maßnahmen für den Sitzungsbereich erlassen. Er könnte zum Beispiel für den Sitzungsfall eine Maskenpflicht verhängen, ohne damit das Verhüllungsverbot (§ 176 II S.1 GVG) zu verletzen.  Auch eine Verringerung der Sitzplatzanzahl oder eine verpflichtende Fiebermessung wäre rechtens. Für bis zu drei Wochen kann er zudem auch die Hauptverhandlung unterbrechen.

Weitergehende Einschränkungen können nur durch den Spruchkörper des Gerichts erlassen werden. Dieser kann zum Beispiel die Sitzung bis zu einen Monat unterbrechen, bzw. nach einer vom Gesetzgeber beschlossenen bis März 2021 gültigen neuen Vorgabe (§ 10 EGStPO) unter gewissen Umständen auch bis zu zwei Monaten. Hierzu ist es nicht wie sonst notwendig, dass vorher bereits 10 Tage lang verhandelt wurde. Ein kompletter Ausschluss der Öffentlichkeit wäre aber auch für den Spruchkörper kaum durchsetzbar, da die dafür vorgesehenen Umstände, wie unter anderem die „Gefährdung der Staatssicherheit“ (§ 172 Nr. 1 Var. 1 GVG) nicht zu der hier vorliegenden konkreten Situation – also das Infektionsrisiko im Sitzungssaal - passen.

Um die Zahl der Medienvertreter zu reduzieren, könnte dagegen der bereits vor der Pandemie geschaffene Paragraph § 169 I S. 3 GVG genutzt werden, demzufolge Medienvertreter auch durch die Bereitstellung einer Tonübertragung über die Verhandlung informiert werden können. Für die „nicht-mediale“ Öffentlichkeit liefert diese Vorschrift jedoch keine Lösung.

Eine audiovisuelle Vernehmung von Zeugen ist nach Maßgabe des § 247a I StPO möglich, auch wenn die dafür aufgelisteten Gründe nicht originär für eine Situation wie die der Pandemie gemeint waren. Sie lassen sich trotzdem auf die aktuelle Situation anwenden, vor allem für Zeugen aus Risikogruppen.

Die Frage, inwieweit auch im Strafrechtsbereich, wie bereits in vielen Bereichen der Arbeitswelt und im Bildungssektor, vermehrt digitale Technologien eingesetzt werden könnten, ist noch längst nicht beantwortet und benötigt vielmehr weitere umfangreiche Diskussionen. Grundsätzlich sind durch § 169 I S. 2 GVG Film- und Tonaufnahmen von Strafgerichtsprozessen in Deutschland derzeit noch verboten. ­­­­

Grundlegende Veränderungen sind notwendig

Im Anschluss an Prof. Kudlichs Ausführungen zu Deutschlands Reaktion auf die Pandemie, beschrieben die chinesischen Teilnehmer, wie China bislang mit dieser Herausforderung umgeht. Prof. Wan Yi (Universität Sichuan) erklärte, dass viele Gerichte in der Anfangsphase extreme strikte Vorsichtsmaßnahmen eingeführt hätten, wie zum Beispiel die Verpflichtung zum Tragen von Schutzkleidung in den Sitzungssälen. Damit wurden jedoch Vorschriften, wie in diesem konkreten Fall das Verhüllungsverbot, verletzt. Für den Fall, dass die Corona-Pandemie noch längerfristig existieren sollte, teilt er daher auch nicht Prof. Kudlichs Grundthese, der zufolge das Strafrechtsprinzip prinzipiell gewappnet für den Umgang mit der Krise sei und lediglich Anpassungen benötige. Prof. Wan ist der Ansicht, dass die Krise einige grundlegende Änderungen des bestehenden Strafrechts verlangt, zum Beispiel neue Regelungen für den Einsatz digitaler Technologien.

Prof. Sun Yuan (Universität der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften) ist ähnlicher Ansicht. Ihm zufolge reichen die bestehenden Möglichkeiten, wie zum Beispiel die Berufung auf das Hausrecht, nicht aus, um adäquate Maßnahmen ergreifen zu können. In China war bereits zu Anfang der Pandemie dazu aufgerufen worden, weitgehend auf persönliche Hauptverhandlungen zu verzichten und stattdessen verstärkt schriftlich zu verfahren. Dies war Prof. Sun zufolge jedoch nicht mit entsprechenden Rechtsvorschriften untermauert, sondern lediglich eine Art Notfallreaktion auf die akute Krise. Langfristig fehlt es noch an einer ausreichenden rechtlichen Grundlage.

 

 

Autor: Ole Engelhardt