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Umgang mit Jugendkriminalität in Deutschland und China
6. Deutsch-Chinesisches Strafrechtssymposium mit der UCASS

Am 28. November 2020 organisierte die Hanns-Seidel-Stiftung (HSS) zusammen mit der Universität der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften (UCASS) bereits zum 6. Mal das Deutsch-Chinesische Strafrechtssymposium. Aufgrund der Corona-Pandemie fand es in diesem Jahr im Online-Format statt. Die deutschen und chinesischen Juristen tauschten sich dabei intensiv über die Unterschiede im Umgang mit Straftaten von Jugendlichen in den beiden Ländern aus.

In den letzten Jahren war in Chinas Nachrichten regelmäßig von Vorfällen zu hören, in denen Jugendliche andere Jugendliche schwer verletzt bzw. sogar getötet haben. In einigen dieser Fälle war der Täter noch keine 14 Jahre alt und konnte daher nach dem chinesischen Recht nicht bestraft werden. Diese aufsehenerregenden Fälle haben dazu geführt, dass ein Teil der chinesischen Gesellschaft mittlerweile eine Herabsetzung des Strafmündigkeitsalters fordert. Dies ist eine der großen Fragen, die Chinas Gesetzgeber bei der Gestaltung eines umfassenden Jugendstrafrechts, an dem seit einiger Zeit gearbeitet wird, beantworten müssen. Indem die beiden deutschen Professoren - Prof. Dr. Dr. h.c. Werner Beulke (Universität Passau) und Prof. Dr. Sabine Swoboda (Ruhr-Universität Bochum) – in ihren Vorträgen erklärten, wie Deutschland mit dieser Herausforderung umgeht, wurden China Ideen für seinen eigenen Gesetzesgestaltungsprozess gegeben. In den letzten Jahren war in Chinas Nachrichten regelmäßig von Vorfällen zu hören, in denen Jugendliche andere Jugendliche schwer verletzt bzw. sogar getötet haben. In einigen dieser Fälle war der Täter noch keine 14 Jahre alt und konnte daher nach dem chinesischen Recht nicht bestraft werden. Diese aufsehenerregenden Fälle haben dazu geführt, dass ein Teil der chinesischen Gesellschaft mittlerweile eine Herabsetzung des Strafmündigkeitsalters fordert. Dies ist eine der großen Fragen, die Chinas Gesetzgeber bei der Gestaltung eines umfassenden Jugendstrafrechts, an dem seit einiger Zeit gearbeitet wird, beantworten müssen. Indem die beiden deutschen Professoren - Prof. Dr. Dr. h.c. Werner Beulke (Universität Passau) und Prof. Dr. Sabine Swoboda (Ruhr-Universität Bochum) – in ihren Vorträgen erklärten, wie Deutschland mit dieser Herausforderung umgeht, wurden China Ideen für seinen eigenen Gesetzesgestaltungsprozess gegeben.

 

Erziehung steht über Strafe – der Grundgedanke des deutschen Jugendstrafrechts

In ihrem einleitenden Vortrag skizzierte Prof. Dr. Sabine Swoboda (Ruhr-Universität Bochum) die Grundlagen des deutschen Jugendstrafrechts, das seit 1923 in der Form des Jugendgerichtsgesetzes (JGG) kodifiziert ist. Das primäre Ziel des JGG ist es, den individuellen Straftäter zu erziehen und zu bewirken, dass er nicht erneut straffällig wird. In Abgrenzung zum Tatstrafrecht spricht man daher vom Erziehungs- und Täterstrafrecht. Bei den Instrumenten des JGG handelt es sich jedoch um repressive Maßnahmen, also Reaktionen auf begangene Straftaten - das JGG ist kein Gesetz zur Vorbeugung gegen Jugendstraftaten. Das ist in Deutschland die Aufgabe des allgemeinen Kinder- und Jugendhilferechts, die maßgeblich von Familiengerichten auf Basis des Sozialgesetzbuches VIII wahrgenommen wird.

Anwendbar ist das JGG auf Jugendliche, die das 14. Lebensjahr vollendet haben, sowie unter gewissen Umständen auch auf Heranwachsende bis zu deren 21. Geburtstag. Dabei ist jedoch auch die geistige Reife zu beurteilen: Stellt ein Richter fest, dass ein 14. oder 15. Jähriger noch nicht „reif genug“ war, „das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln“ (§ 3 S. 1 JGG), ist dieser demnach nicht zu bestrafen. Allerdings kann in solchen Fällen das Familiengericht kindeswohlsichernde Maßnahmen ergreifen.

Prof. Swoboda erklärte, dass Jugendkriminalität als ubiquitäre „Abgleisung“ verstanden wird, die häufig im weiteren Entwicklungsstadium von selbst überwunden wird. Daraus ergibt sich auch die Einsicht, dass eine vollständige Prävention jeglicher Jugendkriminalität unrealistisch ist – sie ist bei einigen Individuen zu einem gewissen Grad Teil des Reifeprozesses („Grenzen austesten“). Diverse kriminologische Forschungen haben dieses Phänomen bestätigt. Eine weitere Folge daraus ist, dass der Staat nicht in jedem Fall intervenieren muss, da dies automatisch eine Stigmatisierung für den Jugendlichen bedeutet. Die Frage, ob und wie interveniert wird, muss vielmehr für jeden Fall neu beantwortet werden.

Da der Jugendliche seinen Reifeprozess noch nicht abgeschlossen hat, ist er noch kein dem Erwachsenen gleichgestellter „Sozialpartner“. Diese sich daraus ergebende geringere Schuldfähigkeit muss sich auch in der Sanktionierung widerspiegeln. Es geht nicht um tatschuldproportionale Sühne oder um ein Bedürfnis der Gesellschaft, vor dem jungen Täter sicher zu sein. Vielmehr orientiert sich die Sanktion an den Erziehungsdefiziten des jungen Täters. Das Prinzip der positiven Generalprävention gibt ferner das Ziel vor, dem individuellen Straftäter dabei zu helfen, zukünftig keine Straftat zu begehen. Der Sinn einer Bestrafung liegt nicht darin, andere dadurch von ähnlichen Taten abzuschrecken (negative Generalprävention). Aus dieser primären Orientierung an der Täterpersönlichkeit, anstatt nur an der Tat selbst, ergibt sich für das Jugendstrafrecht ein deutlich größerer Entscheidungsspielraum hinsichtlich der Sanktionen als im Strafgesetzbuch.

Die möglichen Reaktionen auf eine Straftat werden in der sogenannten Stufenreihenfolge von milde bis hart vorgegeben. Sie reicht von „Nichtreagieren“ über Erziehungsmaßnahmen und Zuchtmittel bis hin zur Verhängung langjähriger Jugendstrafen. Das Höchstmaß für schwere Strafen liegt derzeit bei 10 Jahren, im Falle von Mord kann es sogar bis zu 15 Jahre betragen. Allgemein gilt jedoch, dass Jugendstrafen selten verhängt werden – für Täter ohne Bewährung in nur 2% der Fälle. Dies macht deutlich, dass die Haft nur als ultima ratio für die Personen genutzt wird, die anders durch ambulante erzieherische Maßnahmen nicht mehr zu erreichen sind. Denn die Prisonisierungs- und Deprivationseffekte in den Jugendhaftanstalten sind nicht förderlich für die Erziehung.

In der Praxis werden heute die meisten Fälle – fast 70% - jedoch per „Diversion“ beendet. Das heißt, es erfolgt keine formelle Sanktion, sondern das Verfahren wird entweder folgenlos oder mit der Anordnung ambulanter erzieherischer Maßnahmen eingestellt. Prof. Swoboda erklärte, dass eine Diversion für alle Beteiligten des Strafverfahrens eine positive Wirkung hat: Sie kommt ökonomischen Interessen der Staatsanwaltschaft und des Gerichts an einer schnellen Abwicklung des Verfahrens entgegen und entlastet den Jugendlichen psychisch, da er nicht durch eine Hauptverhandlung stigmatisiert wird. Eine Diversion kommt vordergründig für geständige Täter und bei leichteren Delikten in Betracht, also der typischen leichten Jugendkriminalität.

Aus der letzten bundesweiten Rückfallstudie von 2016 ergab sich, dass 41% der im Jahre 2010 nach Jugendstrafrecht sanktionierten Täter bzw. der 2010 aus dem Jugendstrafvollzug entlassenen Täter innerhalb der ersten drei Jahre rückfällig wurden. Bei denen, die aus dem Jugendstrafvollzug entlassen wurden, waren es 65%. Wenn dagegen das Verfahren eingestellt wurde, wurden nur rund 34 % der Abgeurteilten rückfällig. Prof. Swobodas Schlussfolgerung aus diesen Statistiken ist, dass die Jugendstrafe nicht viel für die Erziehung zu einem Leben ohne Straftaten hilft.

Zusammenfassend erklärte Prof. Swoboda, dass die Orientierung am Kindeswohl im Jugendstrafrecht auch dem Sicherheitsgefühl der Gesellschaft am besten dient. Denn durch den dominierenden Erziehungsgedanken soll den strauchelnden Jugendlichen geholfen werden, zu erwachsenen verantwortungsvollen Sozialpartnern zu werden. Das deutsche Jugendstrafrecht funktioniert und darf auf keinen Fall verschärft werden, appellierte sie.

Kurzzeitiger Freiheitsentzug im Deutschen Jugendstrafrecht

Aufbauend auf dem einleitenden Vortrag vertiefte Prof. Dr. Dr. h.c. Werner Beulke (Universität Passau) in seinem Vortrag das Thema des kurzfristigen Freiheitsentzugs. Genau genommen kann ein kurzfristiger Freiheitsentzug im JGG durch Jugendarrest (Teil der vorher erwähnten „Zuchtmittel“) oder durch Jugendstrafe erfolgen.

Beim Jugendarrest handelt es sich um einen geradezu klassischen kurzzeitigen Freiheitsentzug, der in 8,9% aller Verurteilungen verhängt wird. Unterschieden wird dabei je nach Dauer der Strafe in Freizeit-, Kurzzeit und Dauerarrest (1-4 Wochen). Das geltende Subsidiaritätsprinzip legt fest, dass eine Jugendstraftat nur dann mit Zuchtmitteln (also zum Beispiel dem Jugendarrest) geahndet werden darf, wenn die Erziehungsmaßregeln nicht ausreichen.  Obwohl der Jugendarrest in der Praxis von Richtern nicht selten verhängt wird, wird er von vielen Jugendstrafrechtlern und Kriminologen heftig kritisiert. In einer so kurzen Zeit von bis zu maximal 4 Wochen sei keine erzieherisch sinnvolle Einwirkung auf den Straftäter möglich, lautet der größte Kritikpunkt. Damit stehe diese Sanktion nicht in Einklang mit dem obersten Leitprinzip des deutschen Jugendstrafrechts – dem Erziehungsgedanken. Die bereits erwähnte hohe Rückfallquote (über 60%) wird als statistischer Beweis angeführt. Prof. Beulke relativierte diese Einwände jedoch, indem er erklärte, dass nur 10% diese rückfällig werdenden Jugendarrestanten im Falle erneuter Straffälligkeit zu einer Jugend- oder Freiheitsstrafe ohne Bewährung verurteilt wurden. Das heißt, dass nur wenige mit einem Jugendarrest sanktionierte Täter sich im späteren Leben auf einen echten strafrechtlich relevanten Weg begaben. Zudem finden etwa 90% nach Verbüßung des Jugendarrestes aus dem Bereich der gravierenden Kriminalität heraus. Zumeist gehen einer Verurteilung zu Jugendarrest bereits frühere Strafverfahren gegen den Angeklagten und frühere Verurteilungen voraus, in denen der Jugendrichter damals auf stationäre Maßnahmen gerade noch verzichtet, dem Angeklagten für den Fall erneuter Straffälligkeit aber die Verhängung eines Jugendarrests in Aussicht gestellt hatte.

Eine noch härtere Sanktion als der Jugendarrest stellt die Jugendstrafe dar. Diese verhängt der Jugendrichter, wenn wegen schädlicher Neigungen des Jugendlichen, die in der Tat hervorgetreten sind, Erziehungsmaßregeln oder Zuchtmittel nicht ausreichen, oder wenn wegen Schwere der Schuld eine Strafe erforderlich ist. 2018 wurde sie in 15,8% aller jugendstrafrechtlichen Verurteilungen verhängt.

Das Mindestmaß der Jugendstrafe beträgt 6 Monate, das Höchstmaß 5 Jahre – bei schweren Delikten 10 Jahre. Bei Heranwachsenden beträgt das Höchstmaß der Jugendstrafe immer 10 Jahre, im Falle der Verurteilung wegen Mordes in Ausnahmefällen 15 Jahre. Bei Jugendstrafen bis zu zwei Jahren kann diese auf Bewährung ausgesetzt werden – bei Strafen über zwei Jahren ist dies nicht möglich.

Da über 60% aller Strafverfahren sowieso nicht in diese Statistik einfließen, weil es bei ihnen gar nicht zu einer Verurteilung kommt, die Strafverfahren vielmehr im Wege der Diversion ohne Gerichtsurteil eingestellt werden, und 60% der verhängten Jugendstrafen zur Bewährung ausgesetzt werden, lässt sich zweifelsohne sagen, dass die Chance eines jungen Delinquenten, für eine nachgewiesene Straftat mit einer Jugendstrafe ohne Bewährung sanktioniert zu werden sehr gering ist (unter 3%).

Abschließend stimmte Prof. Beulke seiner Vorrednerin zu, dass das Jugendstrafrecht nicht verschärft werden oder längere Jugendstrafen verhängt werden sollten. Denn die Rückfallforschung zeigt: Je weniger eingriffsintensiv die Sanktion ist, desto besser sind die Bewährungsaussichten. Auch im Falle von Vorverurteilungen sollte ein Richter daher stets verantwortungsvoll prüfen, ob wirklich eine erzieherische Notwendigkeit besteht, längerfristig stationär auf den Angeklagten einzuwirken. Die Jugendstrafe sollte stets nur die ultima ratio sein.

China benötigt ganzheitlichen Ansatz

Im Anschluss an die detaillierte Darstellung des deutschen Jugendstrafrechts gaben die teilnehmenden chinesischen Wissenschaftler ihre Einschätzungen und Erklärungen zu Chinas Umgang mit Jugendkriminalität. Aktuell besteht in China noch kein eigenständiges umfassendes Jugendstrafrecht, vielmehr wird auf Grundlage verschiedener Gesetze verfahren. Die Schaffung eines eigenständigen Jugendstrafrechts ist jedoch ein Ziel, das intensiv verfolgt wird.  

Ass. Prof. Cheng Jie (UCASS) drückte seine Zustimmung zum deutschen Ansatz aus. Den Erziehungsgedanken, anstatt der auf Vergeltung und Abschreckung fußenden Bestrafung, als Leitprinzip zu etablieren, ist seiner Ansicht nach der richtige Weg, dem auch China folgen sollte.  Entsprechend sollte daher auch in China verstärkt der Täter und nicht nur die reine Tat in den Fokus geraten, wenn es darum geht, eine geeignete Reaktion anzuordnen.    

Prof. He Ting vom Institut für Strafrechtsforschung der Pädagogischen Universität Peking beleuchtete einige konkrete Unterschiede in der Handhabung jugendlicher Kriminalität in den beiden Ländern. Zum Beispiel existiert in China ebenfalls das Prinzip der Diversion, allerdings wird es deutlich seltener genutzt – in etwa 10% der Fälle. Durchschnittlich sprechen chinesische Richter noch deutlich häufiger Haftstrafen für jugendliche Täter aus. Mitunter muss diese in Anstalten mit erwachsenen Straftätern abgeleistet werden. Dies, so He, kann eine negative Wirkung auf die weitere Entwicklung der Jugendlichen haben. Das Strafrecht in China, und damit auch die Bestrafung Jugendlicher, ist aus Hes Sicht noch klar vom Vergeltungs- und Abschreckungsgedanken geprägt. Das gesellschaftliche Bedürfnis nach einer harten Bestrafung ist sehr stark, weshalb sich ein System, das auf der Erziehung eines einzelnen Individuums mit dem Ziel beruht, dass er nicht mehr strafbar wird, noch nicht durchgesetzt hat. Der in China prominente Fall eines 13-jährigen Jungen, der im Jahr 2019 ein 10-jähriges Mädchen tötete, hat die Rufe nach einer Herabsetzung des Strafmündigkeitsalters noch einmal verstärkt. Kurz nach dem Symposium wurde das Strafmündigkeitsalter in China dann tatsächlich für einige schwere Gewaltverbrechen von 14 auf 12 Jahre herabgesetzt.  Dies folgt eher der Logik eines Tat-Strafrechts und nicht eines Täterstrafrechts. Prof. Lin Wei, stv. Direktor der Universität der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften, sprach sich dafür aus, dass bei der Bestrafung noch besser zwischen den Delikten unterschieden werden müsse. Man könnte sich hier an Deutschlands Stufenreihenfolge orientieren. Zudem forderte er ein besseres und landesweites Datensystem, um exakte und verlässliche statistische Grundlagen zu haben.

Auch Ass. Prof. Wang Zhenhui von der Fakultät für Strafprozessrecht an der China Universität für Politik und Recht befürwortete Deutschlands Ansatz und würde es begrüßen, wenn dieser erzieherische Gedanke die Basis für Chinas Jugendstrafrecht bilden würde. Dafür ist es wichtig, anzuerkennen, dass jugendliche Straftaten zu einem gewissen Grad „normal“ sind und nicht jede Tat zwingend eine strafrechtliche Intervention nach sich ziehen muss. In den aktuell diskutierten Entwürfen für das neue umfassende Gesetzeswerk ist ihm zufolge ein der Stufenreihenfolge ähnliches System zu erkennen. Grundlegend bemängelt er, dass es China im Jugendstrafrecht noch an einem ganzheitlichen Ansatz mit klaren Leitprinzipien fehlt. Auch in der Forschung besteht wenig Austausch zwischen den einzelnen Disziplinen, was es erschwert, kohärent und systematisch vorzugehen.

Autor: Ole Engelhardt