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Symposium mit der Zentralen Parteihochschule
Wie China die Armut besiegen will

Bis zum Jahr 2020 will die KPCh die letzten rund 40 Millionen Chinesen aus der absoluten Armut befreien. Um dieses ambitionierte Ziel zu erreichen, sollen vor allem die ländlichen Räume entwickelt werden. Im November 2017 tauschten sich Wissenschaftler von Chinas Zentraler Parteihochschule mit deutschen Experten über die Konzepte aus.

Das Thema Armutsbekämpfung steht ganz oben auf Chinas politischer Agenda. Während sich über Jahrzehnte des rasanten Wirtschaftswachstums hunderte Millionen Menschen aus der finanziellen Mittellosigkeit befreien konnten, ging die Schere zwischen Arm und Reich dennoch immer weiter auf. In seiner vielbeachteten rund  dreieinhalbstündigen Grundsatzrede auf dem 19. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) im Oktober 2017 definierte Präsident Xi Jinping einen neuen gesellschaftlichen Hauptwiderspruch. Dieser bezieht sich nun nicht mehr auf die „rückschrittliche Produktion“, sondern liegt „zwischen den ständig wachsenden Bedürfnissen des Volkes nach einem besseren Leben und Chinas unausgeglichener und unzureichender Entwicklung“. Um das Land fit zu machen für eine „neue Ära“ des chinesischen Sozialismus, sollen daher die Bemühungen zur Armutsbekämpfung noch einmal intensiviert werden.

Historische Errungenschaften und neue Wege

Chinas Erfolge im Bereich der Armutsbekämpfung sind historisch weltweit einzigartig. Seit den späten 1970er Jahren konnten in China mehr als 700 Millionen Menschen aus der Armut befreit werden. Die ländliche Armutsquote sank von 97.5% im Jahr 1978 auf 4,5% im Jahr 2016.

Diese beeindruckenden Zahlen konnten in der Vergangenheit angesichts weit verbreiteter Armut in erster Linie durch grobflächige Wirtschaftsförderung und den Ausbau von Verkehrsinfrastruktur erreicht werden. Heute jedoch, so Assistenzprofessor Zhang Yan von der Hochschule des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas (Zentrale Parteihochschule), sollen zielgruppenorientierte individuelle Fördermaßnahmen auch diejenigen Menschen erreichen, die bisher nichts von Chinas neuem Wohlstand abbekommen haben.

Prof. Qiu Gengtian referierte über Chinas Weg aus der Armut

HSS Peking

Entwicklungspläne werden entworfen, um angepasst an die jeweiligen regionalen Besonderheiten ausgewählte Wirtschaftszweige zu fördern. Die Zentrale Parteihochschule ist nicht nur an der Ausarbeitung dieser Pläne beteiligt, sondern entsendet auch Kader in Dörfer und Kreise, die dort in überwiegend beratender Funktion verschiedene Regierungsämter bekleiden. Von 2015 bis 2016 war Zhang in einem Armutskreis in der Provinz Hebei als Vizelandkreisrat tätig und begleitete dort die Umsetzung der Entwicklungsstrategie nicht nur theoretisch, sondern koordinierte unter anderem auch den Verkauf vor Ort gefertigter traditioneller Möbelstücke nach Peking.

Um lokale Standortvorteile nachhaltig zu optimieren, spielt Bildung eine zentrale Rolle. Laut Professor Qiu Gengtian von der Zentralen Parteihochschule liegt die größte Herausforderung nicht in der Finanzierung wirtschaftlicher Hilfsprogramme, sondern in einer umfassenden Förderung von Bildung und Qualifikation. Dabei geht es nicht nur um formelle Bildung, sondern auch um veränderte Denkweisen, denn nur durch nachhaltiges Wirtschaften und eine solide Lebensplanung können langfristige Erfolge und intergenerationale soziale Mobilität erreicht werden.

Prof. Holger Magel, langjähriger Verantwortlicher für die Ländliche Entwicklung in Bayern

HSS Peking

Welchen Wert haben deutsche Entwicklungsmodelle für China?

Armutsbekämpfung im chinesischen Sinne gibt es in Deutschland kaum. Dennoch gibt es Disparitäten zwischen Stadt und Land, die integrierte Konzepte der ländlichen Entwicklung erforderlich machen. Einer der führenden Experten auf diesem Gebiet ist Professor Holger Magel von der TU München, der auf Einladung der HSS seine langjährige politische und wissenschaftliche Erfahrung in den Austausch einbrachte.

In der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse zwischen Stadt und Land sieht Magel ein Gebot der Gerechtigkeit, das er bis auf die Theorien des Philosophen John Rawls zurückführt. So muss der Staat immer dann in das freie Spiel der Kräfte eingreifen, wenn die Ungleichheiten zu groß werden, um einen gerechten Ausgleich zwischen wohlhabenden und weniger entwickelten Regionen herzustellen.

Magels Modell der Räumlichen Gerechtigkeit basiert auf einer Gliederung in die vier Bereiche Chancen-, Verteilungs-, Verfahrens- und Generationengerechtigkeit. Indem neben der Höhe der Einkommen auch Indikatoren wie Beschäftigungsquote, Langzeitarbeitslosigkeit oder die Anzahl an Schulen und Krankenhäusern erhoben werden, ermöglicht das Modell eine objektive und lösungsorientierte Problemanalyse.

Im Mittelpunkt müssen die Wünsche und Befindlichkeiten der Landbevölkerung stehen. Der materielle Lebensstandard mag zwar niedriger sein als in der Stadt, die Lebenszufriedenheit muss jedoch vergleichbar sein. Dieses Ziel wird in Deutschland auch durch das Mittel der Bürgerbeteiligung erreicht, das es den Menschen ermöglicht, das öffentliche Leben aktiv nach ihren eigenen Wünschen mitzugestalten.

Magel betonte, dass die vorgestellten Grundprinzipien ländlicher Entwicklung keineswegs nur für Deutschland gelten. In der konkreten Ausgestaltung seiner eigenen Strategie muss China zwar eigene Wege finden, deutsche und chinesische Ansätze können sich aber durchaus ergänzen.

Prof. Olaf Struck veranschaulichte staatliche Strukturförderung in Ostdeutschland

HSS Peking

Was kann China von Ostdeutschland lernen?

Nach der Wiedervereinigung wurden in Ostdeutschland wertvolle Erfahrungen mit der Förderung strukturschwacher Regionen gesammelt. Einige ländliche Gebiete waren dem Rest des Landes wirtschaftlich weit unterlegen und die Lebensverhältnisse sollten innerhalb kürzester Zeit an die in Westdeutschland angeglichen werden.

Olaf Struck, Inhaber der Professur für Arbeitswissenschaft an der Universität Bamberg, erklärte, dass in Ostdeutschland zwar große Fortschritte erzielt werden konnten, strukturelle wirtschaftliche Schwächen allerdings bis heute nachwirken, sodass das durchschnittliche Lohnniveau auch knapp 30 Jahre nach der Wiedervereinigung noch um rund 25% geringer ist als in Westdeutschland.

Erfolge lassen sich in Ostdeutschland vor allem dort ausmachen, wo eine konsequente wirtschaftliche Clusterpolitik verfolgt wurde und strategische Branchen gezielt gefördert wurden. Nachdem in den 1990er Jahren die Arbeitslosigkeit infolge des Systemwechsels sprunghaft angestiegen war, wurde im Jahr 2004 zudem die Arbeitslosenbetreuung deutlich intensiviert, wodurch individueller auf Lebenslagen und Probleme in Bereichen wie Qualifikation, Gesundheit oder Familie eingegangen werden konnte.

Trotz einer objektiven Verbesserung der wirtschaftlichen Situation in den neuen Bundesländern bedingt der direkte Vergleich mit Westdeutschland bis heute eine geringere Lebenszufriedenheit der Ostdeutschen.

Die Situation in Ostdeutschland wurde intensiv diskutiert

HSS Peking

Dabei ist die materielle Lage nicht der einzige Faktor für verbreitete Unzufriedenheit. Wichtige Prinzipien, die für die Akzeptanz von Veränderungen wichtig sind, wurden aufgrund der schnellen Geschwindigkeit, mit der politische Entscheidungen getroffen und umgesetzt werden mussten, nicht beachtet. Viele Ostdeutsche fühlten sich nicht hinreichend in Entscheidungsprozesse eingebunden und hatten zu wenig Zeit, zu lernen und eigene, alternative Wege auszuprobieren. So zeigt sich auch am Beispiel Ostdeutschlands die Wichtigkeit von Partizipation und Verfahrensgerechtigkeit für von den Bürgern als fair empfundene Entwicklungsprozesse.

Wohlstand für alle?

Pünktlich zum einhundertsten Jubiläum der Gründung der KPCh im Jahr 2021 will China eine „Gesellschaft des moderaten Wohlstands“ verwirklichen. Doch selbst wenn die absolute Armut bis dahin überwunden sein sollte, wird relative Armut über Jahrzehnte hinweg ein zentrales politisches Handlungsfeld bleiben. Systemische Defizite regionaler Wirtschaftsstrukturen werden trotz vieler erfolgversprechender Lösungsansätze noch lange fortbestehen. Auch das ist eine Lehre der deutschen Erfahrung.

 

Autor: Dominik Sprenger