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Gastbeitrag von Prof. Gong Weibin, Zentrale Parteihochschule
Social Governance in Deutschland und was wir daraus lernen können

Vom 27. März bis 3. April 2019 hielt sich auf Einladung der Hanns-Seidel-Stiftung eine achtköpfige Delegation aus Wissenschaftlern der Zentralen Parteihochschule in Deutschland auf. Der vorliegende Gastbeitrag, in dem Delegationsleiter Professor Gong Weibin die Ergebnisse der Delegationsreise zusammenfasst, erschien in chinesischer Sprache erstmals in der Study Times, zentrales Presseorgan der Zentralen Parteihochschule.

Deutschland ist ein modernes, entwickeltes Land mit 83 Millionen Einwohnern, darunter mehr als 10 Millionen Migranten. Nach dem zweiten Weltkrieg errichtete Westdeutschland ein föderales System, gekennzeichnet durch vertikale Gewaltenteilung zwischen Bund und Ländern und lokale Selbstverwaltung. An Stelle einer gänzlich ungezügelten freien Marktwirtschaft entschied man sich für eine soziale Marktwirtschaft, die Raum für begründete staatliche Eingriffe lässt. Auf das Ende des zweiten Weltkriegs folgte ein schneller Wiederaufstieg und auch die deutsch-deutsche Teilung konnte schließlich überwunden werden. Deutschland wurde zur „Lokomotive“ des europäischen Wirtschaftswachstums und schaffte den Sprung in die Riege der weltgrößten Wirtschaftsnationen. Doch es gibt auch Probleme. So warf die Wiedervereinigung die Frage regionaler Entwicklungsgefälle zwischen West- und Ostdeutschland auf. Der große Anstieg der Migrantenzahlen rückte das Problem der gesellschaftlichen Integration in den Fokus. Auch die seit der Jahrtausendwende immer raschere Alterung der Gesellschaft wirft zahlreiche Herausforderungen für die sozioökonomische Entwicklung auf. Viele ausgesprochen erfolgreiche und innovative Reformbemühungen haben die Grundlage dafür gelegt, dass die sozioökonomische Entwicklung in Deutschland im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts auch in den unruhigen Fahrwassern der US-amerikanischen Subprime-Krise sowie der dadurch ausgelösten weltweiten Finanzkrise und der Euro-Schuldenkrise entgegen der allgemeinen Entwicklung auf Kurs bleiben konnte. Schon seit neun Jahren in Folge konnte ein verhältnismäßig starkes Wirtschaftswachstum bei gleichzeitiger gesellschaftlicher Stabilität erzielt werden. Im Jahr 2018 betrug die Arbeitslosenquote 5,2 Prozent, in Bayern lag sie mit drei Prozent am niedrigsten.

Deutschland und China unterscheiden sich in ihren jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Systemen, in ihren historischen und kulturellen Hintergründen sowie in ihrem allgemeinen Entwicklungsstand. Dennoch kann China einiges aus Deutschlands theoretischen Grundsätzen und praktischen Erfahrungen im Bereich Social Governance lernen und in den Aufbau eines Social-Governance-Systems des Sozialismus Chinesischer Prägung einbringen.

Sicherung und Verbesserung des Lebensstandards als Voraussetzung einer effektiven Social Governance

Im Jahr 2017 betrug der Anteil der Menschen über 65 Jahre 21,4 Prozent der deutschen Gesamtbevölkerung. Damit gehört Deutschland zu den Ländern, in denen die Alterung der Gesellschaft weltweit am weitesten fortgeschritten ist. Die durchschnittliche Lebenserwartung beträgt 81 Jahre, während die Geburtenrate bei nur 1,5 Kindern pro Frau liegt. Jedes Jahr sterben gut 900.000 Menschen, doch es werden nur knapp 800.000 Kinder geboren. Es gibt es immer mehr ältere Menschen und der natürliche Bevölkerungssaldo nimmt stetig ab. Um die für eine Aufrechterhaltung des Wirtschaftswachstums erforderlichen Arbeitskräfte zu gewinnen, nimmt Deutschland daher zahlreiche Migranten auf. Im Jahr 2015 betrug die Nettozuwanderung mehr als eine Million Menschen. Aufgrund regionaler Entwicklungsgefälle wanderten viele Menschen aus Ostdeutschland in wirtschaftlich besser entwickelte Regionen in West- und Südwestdeutschland ab, was zu Unterbevölkerung und wirtschaftlicher Rezession in einigen Teilen Ostdeutschlands führte. Vor Herausforderungen steht Deutschland daher in den Bereichen demografischer Wandel, Beschäftigungssicherheit, Verringerung regionaler Disparitäten sowie bei der Sicherung und Verbesserung des Lebensstandards der Menschen. Vor diesem Hintergrund hob die Bundesrepublik im Jahr 2012 das Renteneintrittsalter von 65 auf 67 Jahre an.

Das Sozialversicherungs- und Sozialhilfesystem wird ständig reformiert und weiter verbessert. Es garantiert Arbeitslosen und Menschen in prekären Beschäftigungsverhältnissen eine Grundsicherung, schiebt aber zu hohen Sozialleistungen oder gar Sozialbetrug einen Riegel vor. Es fördert und fordert die Aufnahme von Erwerbsarbeit. Um eine Betreuung im Alter zu gewährleisten, führte Deutschland als weltweit erstes Land ein langfristiges Pflegeversicherungssystem ein, in das Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu gleichen Teilen einzahlen. Der Staat fördert die häusliche Pflege ebenso wie kirchliche, gemeinnützige oder private Altenpflegeeinrichtungen. Der Aufnahme in eine Pflegeeinrichtung gehen ein Antrag bei der Krankenkasse, die Einstufung in einen bestimmten Pflegegrad durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung sowie die Unterzeichnung eines Vertrags mit der Pflegeeinrichtung voraus. Die Kosten werden von der Pflegeversicherung und dem Gepflegten gemeinsam getragen. Je nach Pflegegrad übernimmt die Versicherung einen bestimmten Anteil, je höher der Pflegegrad, desto höher der Betrag. Mit höherer Pflegebedürftigkeit steigt der Eigenanteil also nicht an, sondern bleibt in etwa konstant. Im Falle von Finanzierungsschwierigkeiten kann zudem staatliche Bezuschussung beantragt werden. Die Bewohner von Pflegeeinrichtungen sind in aller Regel alte Menschen, Behinderte oder Demenzkranke. Das in München von uns besuchte „Haus der Pflege St. Elisabeth“ nimmt nur Senioren ab 75 Jahre an. Senioren mit geringerem Pflegebedürfnis stehen zudem Angebote der Tagespflege und des betreuten offen. Tagespflegeeinrichtungen bieten etwa Verpflegung, Sozial- und Freizeitaktivitäten sowie professionelle Betreuungsdienstleistungen an.

Zur Bereitstellung bezahlbaren Wohnraums stellen mehr als 2.000 nicht-profitorientierte Wohngenossenschaften insgesamt 10% der Wohneinheiten in Deutschland. Die Mieten liegen dabei weit unter dem Marktpreis, was zu einer erheblichen Linderung der Wohnungsnot der mittleren und unteren Einkommensschichten beiträgt. Die Bundesregierung setzt sich konsequent für den Schutz individueller Rechte ein. Dies gilt für Mieter privater Wohnangebote ebenso wie für die Kunden der Wohngenossenschaften. Auch für Obdachlose stellt die Regierung temporäre Unterkünfte zur Verfügung.

Stärkung gesellschaftlichen Engagements als Basis einer effektiven Social Governance

Es sind zwei Seiten einer Medaille: Der Staat schützt die legitimen Rechte seiner Bürger und diese stellen sich in den Dienst der Gemeinschaft. Deutschland fördert bürgerschaftliches Engagement. Nach dem Motto „einer für alle und alle für einen“ wird ein solidarisches System der gesellschaftlichen Zusammenarbeit in Eigenverantwortung ermöglicht. So werden die Kosten der gesellschaftlichen Organisation und Verwaltung reduziert und Effizienz und Qualität von Social Governance erhöht. Die Teilnahme an Freiwilligendiensten und Aktivitäten gemeinnütziger gesellschaftlicher Organisationen sind wichtige Instrumente zur Stärkung sozialer Verantwortung. Von klein auf engagieren sich die Menschen in Deutschland in Jugendfeuerwehren und Fußballvereinen. Trotz gewisser Veränderungen in jüngerer Zeit sind Freiwilligenorganisationen und Freiwilligendienste nach wie vor fest in der deutschen Gesellschaftstradition verankert. In Deutschland engagieren sich mit über 30 Millionen Menschen mehr als 40 Prozent der Gesamtbevölkerung ehrenamtlich, die Alterspanne reicht vom Kindesalter bis über 90 Jahre. Die meisten von ihnen sind in den Bereichen Sport, Kunst und Kultur, Feuerwehr, Altenpflege oder Umweltschutz aktiv. Früher mussten junge Männer, die den Wehrdienst verweigerten, außerdem Zivildienst leisten, mittlerweile wurde diese Verpflichtung jedoch abgeschafft.

Die Regierung unterstützt freiwilliges Engagement finanziell sowie in Form von bevorzugtem Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen. Auch fordert sie von Arbeitgebern eine gewisse finanzielle Unterstützung ehrenamtlichen Engagements ein. Im Rahmen eines Teilzeitfreiwilligendienstes leisten Ehrenamtliche wöchentlich - etwa als Pflegeassistenten - mindestens 20 Stunden Arbeit ab und erhalten dafür 250 bis 400 Euro Taschengeld pro Monat. Außerdem stellt die Regierung Arbeitsunfall-, Kranken- und Arbeitslosenversicherungsschutz. Derzeit leisten jährlich mehr als 10 Prozent der Schulabgänger ein Freiwilliges Soziales Jahr, oft zwischen Schule und Universität. Gesellschaftliche Organisationen sind in Deutschland sehr entwickelt. Scherzhaft heißt es daher: „Wenn drei Deutsche zusammentreffen, gründen sie erst mal einen Verein.“ Von Bürgern und Unternehmern mit ausgeprägtem sozialem Gewissen gegründete gemeinnützige soziale Organisationen und insbesondere Stiftungen schaffen Plattformen für freiwilliges Engagement, um Menschen zu helfen und einen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten. Das Motto lautet: „Jeder kann helfen!“ Die Schwelle zur Gründung gemeinnütziger Stiftungen in Deutschland ist niedrig: 50.000 Euro reichen aus, um eine Stiftung zu registrieren. Allein in Berlin gibt es mehr als 800 gemeinnützige Organisationen, 11.000 Freiwillige engagieren sich in über 500 Projekten. Gemeinnützige Stiftungen arbeiten nicht profitorientiert. Sie kommen mit nur wenigen Mitarbeitern - meist nur zwei oder drei Vollzeitkräften - aus und haben relativ geringe Betriebs- und Verwaltungskosten. Auch die Kontrolle durch die zuständigen Regierungsstellen ist recht einfach geregelt: Einmal pro Jahr müssen Stiftungen einen Jahresbericht (inklusive Finanzbericht) zur Prüfung vorlegen. Das Einkommen von Stiftungsmitarbeitern unterscheidet sich nicht wesentlich von dem von Unternehmensangestellten und ermöglicht ein würdevolles Leben. Gemeinnützige Stiftungen genießen bestimmte Privilegien, wie etwa Steuervergünstigungen. Einkommen unter 18.000 Euro können von der Steuer befreit werden. Von einer Verbesserung des Unternehmensimages über die Erweiterung sozialer Netzwerke bis hin zur Weitergabe von Arbeits- und Lebenserfahrungen ermöglicht ehrenamtliches Engagement deutschen Unternehmern, Jugendlichen, Studenten oder Rentnern die Erfüllung der verschiedensten Bedürfnisse. Auch eine Bereicherung der eigenen Lebenserfahrung, Perspektiverweiterung, die Aneignung von Wissen oder die Erfüllung gesellschaftlicher Verantwortung sind Motivation für ehrenamtliches Engagement. Gemeinnützige Stiftungen bringen verborgenes Freiwilligenpotential zur Entfaltung und schlagen eine Brücke zwischen Angebot und Nachfrage.

Stärkung des Vertrauens der Bürger in die Regierung als Weg zu einer effektiven Social Governance

Das Vertrauen der Bürger in die Regierung ist Grundlage dafür, dass Regierungshandeln die Unterstützung der Bevölkerung erhält. Um das Vertrauen der Bevölkerung zu gewinnen, setzt die Politik erstens auf ein System der demokratischen Bildung und zweitens auf innovative Ansätze, in deren Rahmen Parlamentarier den Menschen dienen und Regierungsbeamte in einen Dialog mit den Bürgern treten. Im Bundestag sind derzeit sechs größere Parteien vertreten, von denen jede über ihre eigene Stiftung verfügt. Die parteinahen Stiftungen engagieren sich in den Bereichen Bildung, internationale Zusammenarbeit, Politikberatung, akademische Forschung und gesellschaftliches Engagement. Die Stiftungen finanzieren sich aus staatlichen Geldern, deren Höhe sich aus der Anzahl der Bundestagsmandate ihrer jeweiligen Parteien errechnet. Die deutschen parteinahen Stiftungen sind ein einmaliges politisches Konstrukt. Sie finanzieren sich nicht aus einem bestehenden Stiftungsvermögen, sondern aus dem laufenden Bundeshaushalt. Trotz ihrer Parteinähe verfügen die Stiftungen über einen eigenen Vorstand und operative Unabhängigkeit. Unser Kooperationspartner im Rahmen der aktuellen Delegationsreise, die Hanns-Seidel-Stiftung, steht der CSU nahe. Zwar basiert ihre Arbeit auf dem christlich-sozialen Werteverständnis der CSU, doch ist sie wirtschaftlich, rechtlich und organisatorisch unabhängig. Parteinahe Stiftungen machen jungen Menschen Angebote demokratischer politischer Bildung. Sie helfen ihnen beim Verständnis des Wesensgehalts und der Regeln demokratischer Politik und ermutigen sie, selbst aktiv zu werden. Außerdem ermöglichen sie Kandidaten politischer Ämter sowie lokalen Politikern und Beamten Schulungen den Bereichen Rhetorik und gute Amtsführung. Sie laden Parlamentarier und Regierungsbeamte zum Bürgeraustausch ein, um Hintergründe politischer Entscheidungen erklären und Wissen und Werte vermitteln zu können. Die Förderung des Dialogs zwischen Politikern und Bürgern erhöht das Verständnis und das Vertrauen der Bürger in die Politik.

Um den Kontakt zu den Bürgern zu stärken und um diesen noch besser dienen zu können, haben einige Bundesländer das Amt des „Bürgerbeauftragten“ eingerichtet. Dieser schlägt eine Brücke zwischen Regierung und Bürgern und schafft einen direkten Kanal bis hinauf zum Ministerpräsidenten. In Bayern wird dieses Amt von Klaus Holetschek, MdL, ausgeübt. In der Vergangenheit war er für die Hanns-Seidel-Stiftung tätig, diente als Bundestagsabgeordneter und Bürgermeister und verfügt somit über reichlich politische Erfahrung. Vor einem Jahr wurde er vom bayerischen Ministerpräsidenten zum Bürgerbeauftragten ernannt. Die Bürger können sich mit ihren Anliegen direkt an ihn wenden oder auch per Facebook oder ähnliche Kanäle Vorschläge und kritische Anregungen äußern. Seit Amtsantritt nahm er über 1.000 Bürgerbeschwerden aus den verschiedensten Bereichen, wie z.B. Baugenehmigungen oder Krankenversicherungen, an. Innerhalb von maximal zwei Wochen nach Eingang einer Beschwerde antwortet Herr Holetschek in verständlicher und unbürokratischer Sprache. Sein Status als Parlamentarier sowie seine Ernennung durch den Ministerpräsidenten befähigen ihn zu einer besonders effektiven Kontroll- und Kommunikationsfunktion gegenüber der Regierung zur Lösung der praktischen Probleme der Menschen. Außerdem unterstützt er den Ministerpräsidenten dabei, regelmäßige oder unregelmäßige Dialoge mit den Bürgern abzuhalten, um sich intensiv zu politischen Fragen auszutauschen, den Bürgerwillen anzuhören, Entscheidungen zu verbessern, Missverständnisse auszuräumen und Verständnis und Vertrauen zu schaffen. Um Kritik und Anregungen von den Bürgern einzuholen, unterhalten Regierung und Ministerpräsident spezielle E-Mail-Postfächer und die Landesregierung hat ein Bürgerbeschwerdezentrum eingerichtet. Außerdem veröffentlicht das ZDF regelmäßig die Beliebtheitswerte der zehn wichtigsten Politiker.

Achtung individueller und lokaler Rechte zur Umsetzung einer effektiven Social Governance

Fest in der christlichen Wertetradition verankert, glauben die Menschen in Deutschland an „Individualität, Selbstverwaltung und gegenseitige Hilfe“. Gemeinsam ergeben diese drei Elemente ein einheitliches Ganzes. Der Respekt vor dem Einzelnen impliziert die Betonung individueller Rechte und Toleranz gegenüber Unterschieden. Selbstverwaltung macht eine Abgabe von Kompetenzen und Verantwortung auf niedrigere Ebenen erforderlich. Das Prinzip der gegenseitigen Hilfe fördert gesellschaftliche Zusammenarbeit und Solidarität. Zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, zwischen Bürgern und Staat sowie zwischen Bund und Ländern herrscht eine ausgeglichene Kompetenzverteilung. Dem Schutz der Rechte und Interessen von Arbeitnehmern, Individuen und lokalen Einheiten wird große Bedeutung zugemessen. So dürfen Arbeitgeber ihre Angestellten beispielsweise nicht beliebig entlassen. Ist eine Entlassung unumgänglich, ist diese mindestens sechs Monate im Voraus anzukündigen. In allen Branchen setzen sich Gewerkschaften für die Wahrung der legitimen Rechte und Interessen der Arbeitnehmer ein. In Deutschland gibt es insgesamt zwölf große branchenspezifische Gewerkschaften, die in ihrer Gesamtheit sehr einflussreich sind. Ab einer bestimmten Größe verfügen alle Unternehmen über einen Betriebsrat, der sich für die Anliegen der Arbeitnehmer einsetzt. Im Vorfeld von Stellenreduzierungen muss das Unternehmen zunächst den Betriebsrat informieren und gegebenenfalls dessen Zustimmung erwirken. Dabei unterhalten die Betriebsräte enge Verbindungen zu den Gewerkschaften und können auf deren Ressourcen zurückgreifen. Im ganzen Land setzen sich in 100.000 Unternehmen rund 500.000 Betriebsratsmitglieder ehrenamtlich für die Interessen der Arbeitnehmer ein.

Das Grundgesetz schützt „die Würde des Menschen“ und „die freie Entfaltung der Persönlichkeit“ vor staatlichen Eingriffen. Mit der Entwicklung digitaler Technologien - insbesondere der rasanten Entwicklung des Internets - rücken Fragen des Schutzes der Privatsphäre und des Missbrauchs persönlicher Daten in den Fokus von Verbrechensprävention und Regierungspolitik. Deutschland formulierte ein „Bundesdatenschutzgesetz“ und errichtete zudem auf Regierungsebene das Amt des Datenschutzbeauftragten ein. Ausgehend vom öffentlichen Interesse und dem Prinzip der Zweckbindung überwacht dieser die Einhaltung strenger Beschränkungen der Regierung zur Sammlung personenbezogener Daten sowie die Verhinderung eines Nachaußendringens dieser Daten. Er ist zuständig für die technologische und prozessuale Gewährleistung rechtsstaatlichen Regierungshandelns und nimmt Bürgerbeschwerden entgegen.

In Deutschland herrscht lokale Selbstverwaltung. Die Deutschen sind überzeugt, dass zuallererst sie selbst die Verantwortung für ihre eigenen Geschicke tragen. Der Schwerpunkt der Social Governance liegt daher auf der kommunalen Regierungsebene und auf der Gesellschaft. Dem Bund obliegt eine Aufsichtspflicht gegenüber den Landesregierungen und er arbeitet diesen koordinierend und unterstützend zu. Gesellschaftliche Ressorts wie Bildung, Gesundheit oder Kultur liegen in der Zuständigkeit der Länder. Selbst wenn die Bundesregierung finanzielle Unterstützung leistet, darf er hieran keine Bedingungen knüpfen und in die Zuständigkeiten der Länder eingreifen.

Thinktank-Funktion der Wissenschaft zum Aufbau einer effektiven Social Governance

Die Politik in Deutschland legt großen Wert auf Einschätzungen und Empfehlungen der Wissenschaft und versteht es, externe Expertise in die Ausarbeitung wissenschaftlich fundierter politischer Entscheidungen einbringen. Auch spielt die Wissenschaft eine wichtige Rolle in der Kommunikation, Erklärung und Umsetzung politischer Entscheidungen. In Berlin besuchten wir das Institut für Angewandte Demographie Berlin-Brandenburg (IFAD). Dr. Harald Michel ist Gründer und Leiter des Instituts und unterrichtet außerdem 40 Stunden pro Semester an der Humboldt-Universität. Das IFAD ist eine private Einrichtung mit insgesamt 20 Mitarbeitern, davon vier Festangestellte und 16 Teilzeitkräfte. Das Institut finanziert sich über den Verkauf von Dienstleistungen an EU-, Bundes-, Landes- und Kommunalregierungen sowie deren untergeordnete Organe. In den letzten Jahren untersucht das IFAD vornehmlich historische und aktuelle Trends der weltweiten Bevölkerungsentwicklung, europäische Entwicklungstrends sowie die Alterung der deutschen Gesellschaft und politische Lösungsansätze. Die Vertreter des IFAD äußerten sich kritisch gegenüber der aktuellen deutschen Bevölkerungs- und insbesondere Einwanderungspolitik. Sie sind der Meinung, einige Politiker hätten die tiefgreifenden sozioökonomischen Implikationen des demografischen Wandels noch nicht vollumfänglich erkannt. Probleme stellen sich vor allem in der Zuspitzung regionaler Entwicklungsgefälle sowie bezüglich der Integration von Zuwanderern und den damit verbundenen Auswirkungen auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

In einem Austausch an der Universität Bamberg erfuhren wir, wie die dortigen Professoren ihr jeweiliges sozialwissenschaftliches Fachwissen aus Soziologie und Politologie in die theoretische und politische Forschung zu praktischen Fragen der Social Governance einbringen. Aus soziologischer Perspektive, so Professor Olaf Struck, sollte sich eine gute Social Governance an den Prinzipien der Verfahrensgerechtigkeit und der Subsidiarität ausrichten. Gerechtigkeit umfasst Gleichbehandlung, Unvoreingenommenheit, vollständige Information und genaue Datenerhebung, die Möglichkeit, Fehler zu korrigieren, eine angemessene Berücksichtigung aller Interessen sowie Respekt für die vorherrschenden ethischen und moralischen Werte. Das Subsidiaritätsprinzip besagt, dass Entscheidungen, Handlungen und Verantwortung auf möglichst niedrigen gesellschaftlichen Ebenen belassen werden sollten. Nur wenn Dritte von Handlungen beeinträchtigt werden oder die niedrige gesellschaftliche Ebene mit einem Problem überfordert ist, soll eine übergeordnete Instanz hinzutreten. So sollten lokale Probleme von den Menschen vor Ort gelöst werden, denn sie kennen sich am besten aus, verfügen über Erfahrung, Wissen und Qualifikation. Die Anerkennung dezentraler Einheiten ist zudem Ausdruck von Respekt und fördert deren Motivation. Aus politologischer Perspektive analysierte Professor Thomas Saalfeld zwei groß angelegte gesellschaftliche Umfragen aus den Jahren 2014 und 2016. Im Jahr 2014 befragte das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 28.960 Menschen; der European Social Survey 2016 richtete sich an 44.000 Menschen in 23 europäischen Ländern und Israel, wobei die Mehrheit der Befragten aus Deutschland kam. Beide Umfragen drehten sich vor allem um die Bereitschaft von Menschen verschiedener gesellschaftlicher Schichten zu ehrenamtlichem und politischem Engagement. Die Analyse der Daten zeigt, dass die Bereitschaft der Bürger in Deutschland, sich ehrenamtlich zu engagieren, in den letzten 20 Jahren kontinuierlich gestiegen ist. Die Beteiligungsrate stieg von 34 Prozent im Jahr 1999 über 35,5 Prozent im Jahr 2004 auf 43,6 Prozent im Jahr 2014. Die Bereitschaft zu politischem Engagement jedoch ist eher gering, wobei eine positive Korrelation zwischen hohem Einkommen und Bildungstand auf der einen Seite und einer aktiven öffentlichen Beteiligung auf der anderen Seite besteht. Ihre Forschungsbefunde bringen die Wissenschaftler in Form von öffentlichen Vorträgen, Fachartikeln und politikberatenden Berichten in die stetige Anpassung und Verbesserung der Social Governance in Deutschland ein.

 

Autor: Prof. Gong Weibin

Übersetzung: Dominik Sprenger