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„Digitalisierung und Strafzumessung“
Deutsch-Chinesische Konferenz mit der Universität der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften (UCASS)

Am 8. Juni 2022 organisierte die Hanns-Seidel-Stiftung (HSS) zusammen mit der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften (UCASS) einen online durchgeführten Austausch zum Thema „Digitalisierung und Strafzumessung“. Der Dialog gerade im Kontext neuer technologischer Entwicklungen bot eine gute Gelegenheit, Erfahrungen der Rechtswissenschaft aus beiden Ländern auszutauschen und dadurch auch voneinander zu lernen, da Herausforderungen im Zeitalter von Big Data nicht an Ländergrenzen haltmachen.

Nach einem einführenden Vortrag von Prof. Dr. Franz Streng über die Regelungen in Deutschland, gaben die anwesenden chinesischen Wissenschaftler in ihren Kommentaren Einblicke in die Situation in China.

 

Die Veranstaltung fügte sich in die langjährige und vertrauensvolle Kooperation der

Hanns-Seidel-Stiftung (HSS) mit der China Universität für Politik und

Rechtswissenschaft (CUPL), die zudem eingebettet ist in den Deutsch-Chinesischen

Rechtsstaatsdialog. Auf Einladung von Prof. Dr. Cheng Jie, Universität der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften (UCASS), tauschten sich Prof. Dr. Franz Streng (Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg/FAU) und die anwesenden chinesischen Wissenschaftler - Prof. Dr. Fan Wen (Institut für Juristische Forschung der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften), Prof. Dr. Wang Zhenhui (Chinesische Universität für Politikwissenschaft und Recht, CUPL) , Prof. Dr. Fang Jun (UCASS) und Prof. Dr. Lin Wei (Vizepräsident der UCASS) - im Online-Format über die Frage nach der gerechten Festlegung der Höhe der Strafe für verübte Straftaten aus, und inwiefern digitale Technologien hierbei hilfreich sein können.

Prof. Dr. Streng über den Einsatz von Big Data zur Strafzumessungsermittlung

Mathematisierung der Strafzumessung?

In seinem Vortrag ging Prof. Streng zunächst auf das Thema Strafzumessung ein. Diese weist in Deutschland auf regionaler, lokaler und gar richterindividueller Ebene erhebliche Unterschiede auf, was nicht nur bei einigen Straftätern, sondern auch bei der allgemeinen Öffentlichkeit zunehmend als Verstoß gegen die Anforderungen einer gerechten Strafe empfunden wird. Das Problem soll u.a. dadurch gelöst werden, dass die individuelle Ungewissheit über den richtigen „Einstieg“ (eine anhand der zentralen Tat- und Tätermerkmale sich entwickelnde Vorstellung) gemindert wird, indem sich der Richter an schon abgeurteilten vergleichbaren Taten orientiert. Auf diesem Weg sind in der deutschen Justizpraxis sog. „Straftaxen“ entstanden. Vergangene Umfragen haben ergeben, dass Tatrichter sich sehr wohl stark an solchen Straftaxen orientieren – vor allem natürlich noch unerfahrene Richter oder Staatsanwälte.

Im Zuge der immer fortgeschritteneren Technologien zur Datenverarbeitung gibt es jüngst sogar Überlegungen, einer regellosen Individualisierung der Strafzumessung entgegenzuwirken, indem man Rechenoperationen einsetzt. Etwa sollen durch Befragungen der Bevölkerung erhobene Ankerwerte für die Bestimmung des Einstiegs in den deliktsspezifischen gesetzlichen Strafrahmen zentral maßgeblich werden. Der Richter bewertet anschließend „nur“ einzelne Strafzumessungsumstände, die dann in die Gesamtrechnung mit einfließen. In den USA gibt es mit den „sentencing guidelines“ bereits eine vergleichbare Vorgehensweise. Kritiker dieses „Mathematisierungs-Modells“ halten es jedoch für fragwürdig, ob die Wertungen der allgemeinen Bevölkerung entscheidungserheblich werden sollten. Der Bundesgerichtshof teilt bislang diese kritische Haltung, weshalb es noch keine Fortschritte in Richtung dieses Modells gab. Selbst in den USA wurden der Bindungswirkung des Modells aufgrund negativer Erfahrungen mittlerweile klare Grenzen gesetzt.

Prof. Wen sieht die regionalen Unterschiede in der Strafzumessung als problematisch

Stattdessen empfiehlt Prof. Streng, die überregionale und überörtliche Konsensbildung im Bereich Strafzumessung zu fördern und für alle Strafjuristen erkennbar zu machen. Hinreichend detaillierte statistische Daten zur Strafzumessungspraxis sollten Staatsanwaltschaften, Gerichten und Strafverteidigern in Deutschland zudem zur Verfügung gestellt werden. Ein solches Informationssystem würde voraussetzen, dass jedes Urteil samt Strafmaß in einem System gespeichert wird. Wichtig wäre es aber natürlich auch hier, zu vermeiden, dass für ein Urteil unkritisch ein Durchschnittswert übernommen wird. Die Daten sollten vielmehr lediglich als zuverlässige Groborientierung dienen.

Prof. Dr. Lin Wei

Ähnliche Herausforderungen in China

Prof. Wen berichtet in seinem Kommentar, dass von ihm eingesehene Forschungsbericht gezeigt haben, was Prof. Streng eingangs erwähnt hatte: Die Strafen in Deutschland unterscheiden sich für dieselben Straftaten teils drastisch. Tendenziell sind die Strafen in Süddeutschland strenger als im Norden. Dies stellt ein großes Problem für das Gleichheitsprinzip dar, das eigentlich für die Sanktionierung von Straftaten gelten sollte. In China sind ebenfalls teils große regionale Unterschiede zu verzeichnen. Prof. Wang erklärte, dass in China die Staatsanwaltschaft eine große Rolle bei der Strafzumessung spielt, so muss sie dem Gericht anfangs einen sehr konkreten Vorschlag zur Strafdauer machen, der schriftlich eingereicht werden muss. Modelle wie die „sentencing guidelines“ in den USA werden in China bislang nicht genutzt, stattdessen wird sich an Angaben von obergeordneten Instanzen gehalten.

Das heißt jedoch nicht, dass auch in China unter Schlagworten wie „Smart-Gericht“ oder „Smart-Staatsanwaltschaft“ viel diskutiert wird, wie Big Data oder künstliche Intelligenz in den Strafzumessungsbereich eingebunden werden kann. Inwiefern eine solche intelligente Justiz allerdings vorteilhaft ist, müsste vor einer großflächigen und umfassenden Nutzung empirisch genau untersucht werden. Prof. Fang berichtet von einem mehrere Jahre zurückliegenden Testprojekt in der Provinz Shandong, wo eine Software entwickelt wurde, in die über 1.000 Delikte in 11 verschiedenen Kategorien wie Diebstahl und Bestechung samt der erteilten Strafdauern eingepflegt wurden.

Die Datenbank erlaubte das Suchen nach ganz exakten Tatbeständen, so konnte man zum Beispiel nach Fällen suchen, in denen der Täter seine Tat gestanden hat oder nicht, und dafür die jeweilige Strafdauer erhalten.

Das Projekt wurde damals von vielen Juristen und Wissenschaftlern in China jedoch kritisiert, da sie fürchteten, es würde die individuelle Einschätzung des Richters zu sehr beeinflussen. Prof. Lin bemängelte in seinem Kommentar, dass in China bislang noch nicht ausreichend zu der Thematik geforscht wurde. Anstatt zur Strafzumessungs- oder Sanktionierungstheorie wird schwerpunktmäßig im Bereich der Kriminologie geforscht, was deutlich an der Anzahl der veröffentlichten Forschungspapier ablesbar ist. Auch fehlt es an der Erforschung, wie die unterschiedlichen Bereiche des Strafverfolgungsprozesses miteinander zusammenhängen. Generell spricht Prof. Li sich dafür aus, dass mehr Gerichte und Staatsanwälte die heute technologischen Möglichkeiten zur Strafzumessung – allerdings nur zu rein unterstützenden Zwecken. Ein „blindes Vertrauen“ in die Technik muss unbedingt vermieden werden, im Wesentlichen müsse stets das Gericht die individuelle Strafdauer festsetzen ohne sich zu sehr an Empfehlungen aus Datenbanken zu orientieren. Ein Problem bei solchen Datenbanken ist zudem auch, dass es in vielen Regionen nicht ausreichend Daten gibt, um aussagekräftige Empfehlungen zu geben. Auch könnte ein zu starkes Vertrauen in die Datenlage dazu führen, dass bestimmte Minderheiten benachteiligt werden. Als Beispiel nannte er hierfür die deutliche Überverurteilung von Afro-Amerikanern in den USA. Ein auf den vergangenen Kriminalitätsdaten basierendes KI-System könnte sich in diesem Fall so weiterentwickeln, dass diese Voreingenommenheit sogar noch weiter zunimmt. Die Dateneingabe und -pflege müsste deshalb sehr detailliert und umfassend erfolgen, um eine akkurate Wiedergabe der Tatbestände zu gewährleisten.

Autor: Ole Engelhardt