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Deutsch-Chinesische Konferenz
„Kernbereich privater Lebensgestaltung als Schranke des technologisierten Ermittlungsverfahrens“

Am 28.November 2022 organisierte die Hanns-Seidel-Stiftung (HSS) zusammen mit der Renmin-Universität eine Online-Konferenz, auf der renommierte chinesische und deutsche Experten aus dem Strafrechtsbereich über die Nutzung und die Herausforderungen technologisierter Ermittlungsverfahren in beiden Ländern diskutierten. Ziel war es, durch den Austausch dazu beitragen, dass die Experten neue Einsichten und Ideen aus dem jeweils anderen Land erhalten, die sich eventuell auch an die Gestaltungen in ihrem eigenen Land anpassen lassen könnten.

Die Online-Konferenz war eine weitere Veranstaltung im Rahmen der langjährigen Zusammenarbeit zwischen der Hanns-Seidel-Stiftung (HSS) und der Renmin-Universität in Peking. Den Hauptvortrag hielt dieses Mal Prof. Dr. Luis Greco, Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht, ausländisches Strafrecht und Strafrechtstheorie der Humboldt-Universität zu Berlin, während Frau Prof. Lao Dongyan (Juristische Fakultät der Tsinghua-Universität), Frau Prof. Deng Jinting (Forscherin und außerordentliche Professorin, Institut für die Zukunft der Rechtsstaatlichkeit, Renmin-Universität) und Frau Assoc. Prof. Dr. Wang Ying, (Stellvertretende Direktorin des Instituts für Recht und Technologie der Renmin Universität) Kommentare abgeben und ergänzende Informationen zur Situation in China gaben. Frau Prof. Wang funktionierte auch als Moderatorin des Austauschs.

Deutschland: Schutz vor einem starken Staat

In seinem Hauptvortrag „Kernbereich privater Lebensgestaltung als Schranke des technologisierten Ermittlungsverfahrens" gab Prof. Greco zunächst einen kurzen Überblick über die Entwicklung des Schutzes des Kernbereichs der private Lebensgestaltung in Deutschland. Im Kern geht es dabei darum, den Bürger vor dem Zwang des Staates zu schützen. Ging es früher primär vor dem Schutz physischer Gewalt, geht es nun eher um den Schutz vor Eingriffen mit technologischen Mitteln.

Besonders wichtig hierfür war die 2017 eingeführte Ergänzung der Strafprozessordnung (StPO) durch den Artikel 100d: den Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung innerhalb von zwei Stufen (Erhebungsstufe und Verwertungsebene). Dies stellt eine deutliche Weiterentwicklung der seit den 1950er Jahren geltenden „Sphärentheorie“, die solche Eingriffe nur unter bestimmten Voraussetzungen erlaubte. In die sog. „innerste“ Sphäre, also den Kernbereich der privaten Lebensgestaltung, durfte der Staat sogar gar nicht engreifen. Wegweisend für zukünftige Entscheidungen war der sog. Tagebuch-Fall im Jahr 1989, bei dem nach einem Mord das Tagebuch des Beschuldigten gefunden wurde, in dem er Details dazu preisgab. Das Gericht entschied damals, dieses Tagebuch gehöre nicht zum „innersten“ Bereich, dürfe also eingesehen werden. Ein weiterer wichtiger Schritt war 2004 das Gesetz über die Wohnraumüberwachung: Es müsse sichergestellt sein, dass die akustische Wohnraumüberwachung nicht in den unantastbaren Bereich der privaten Lebensgestaltung eindringt. Dies bedeutet, dass heimliches Abhören zu unterbleiben hat, wenn sich eine Person allein oder ausschließlich mit Personen in der Wohnung aufhält, zu denen sie in einem besonderen, diesen Kernbereich betreffenden Vertrauensverhältnis steht und keine konkreten Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die zu erwartenden Gespräche einen unmittelbaren Straftatbezug aufweisen Denn so das Gericht damals: Zum „Kernbereich gehört die Möglichkeit, innere Vorgänge wie Empfindungen und Gefühle sowie Überlegungen, Ansichten und Erlebnisse höchstpersönlicher Art zum Ausdruck zu bringen.“ Eine Wohnraumüberwachung ist demnach nur dann zulässig, wenn es eindeutig Indizien dafür gibt, dass das Gespräch nicht den Kernbereich des Persönlichen betrifft („negative Kernbereichsprognose“).

Kann man den Kernbereich überhaupt absolut schützen? Viele Experten wie Prof. Bernd Schünemann verneinen dies. Er jedoch bejaht diesen Anspruch, denn sonst ist der Kernbereich des Individuums nur solang am wichtigsten, bis nicht ein anderer öffentlicher Bereich wichtiger wird. Dies würde der Unantastbarkeit der Menschenwürde widersprechen. Was aber wenn eine Katastrophe wie ein Anschlag oder eine Kindesentführung nur durch den Eingriff in den Kernbereich verhindern kann? Entkopplung des Strafprozessbereichs (Prävention) vom polizeirechtlichen Bereich (Repression). Wer bereits gefährlich handelt, der hat seinen Kernbereich verlassen, das heißt im polizeilichen Bereich kann man dann auch darin eingreifen. Kurz gefasst heißt es also, dass man keine „Externalisierung“ des Inneren (Nemo Tenetur-Prinzip) erzwingen darf. Mit den heutigen technischen Mitteln kann der Staat jedoch auch ohne Zwang „Internes externalisieren – zum Beispiel durch das Mitlesen von Chatverläufen. Hier kommt es vor allem auf den Kontext an: Sofern dieser eindeutig dem Kernbereich zuzuordnen ist, darf bereits die Erhebungsstufe nicht durchgeführt werden. Eine Unterhaltung mit einem Freund auf der Straße dürfte Prof. Greco zufolge grundlegend abgehört werden, außer es ist eindeutig zu erkennen, dass es um private Kernbereiche geht. Gespräche mit einem Arzt, Pfarrer oder Anwalt dagegen auf keinen Fall. Aus dieser Logik ergibt sich auch, dass eine Totalüberwachung einer Person nicht gestattet ist.

 

China: Ebenfalls klare Grenzen für Nutzung von Daten

In ihren Kommentaren gingen Frau Prof. Lao, Frau Prof. Deng und Frau Assoc. Prof. Dr. Wang zunächst auf die Ausführungen von Prof. Greco ein. Frau Prof. Lao hob vor allem die Tatsache hervor, dass die Gesetze in Deutschland zwar schon vor dem Internet etabliert worden waren, anschließend mit dem Aufkommen des Internets jedoch entsprechend angepasst werden mussten. Anschließend gingen die Professorinnen auf die Situation in China schilderten. Auch China steht vor der Herausforderung, wie man mit dem Aufkommen der neuen Informationstechnologien umgeht, da sich dadurch häufig der öffentliche und private Bereich vermischen, betonte Prof. Wang. China setzt primär bei der Regulierung der Nutzer und der Plattformen ein, d.h. es gibt sehr genaue und umfassende Vorschriften für die Verwendungen von Plattformen (z.B. Chats oder Foren), erklärte Frau Prof. Deng. Grundsätzlich gilt auch in China, dass Daten von Personen nur dann für die Strafermittlung verwendet werden dürfen, wenn es bereits ein konkreter Verdacht bzw. Indizien für eine Straftat bestehen. Dabei kommt es zusätzlich auch um den Grad der Gefahr – nur bei einer schwerwiegenden Gefahr geben die Gericht in der Regel die Erlaubnis zur Nutzung der Daten.

Grundsätzlich waren sich die chinesischen Expertinnen, dass der Ansatz in Deutschland zu gewissen Teilen auch Denkanstöße für China liefern könnte, sofern sie an die unterschiedlichen Rahmenbedingungen angepasst werden.

 

Autor: Ole Engelhardt