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Online-Vortrag mit der CUPL
„Jüngste Entwicklungen der Verständigung im Strafprozess (Plea Bargaining) in Deutschland“

Die aus den USA stammende Gerichtspraxis des „Plea Bargaining“ wird international durchaus kontrovers gesehen. Mit dem Begriff wird in der Rechtswissenschaft eine Vergleichsvereinbarung zwischen einem Angeklagten und der Staatsanwaltschaft verstanden, um ein abgekürztes Strafverfahren zu ermöglichen, sofern sich dieser schuldig bekennt. Ist diese Verfahrensart in den USA sehr dominant, wird sie in Deutschland eher selten angewandt. Es ist daher lohnenswert, zu verstehen, ob die Praxis im Strafverfahren relevant ist und welche Widersprüche und zentralen Probleme damit für die Herstellung von Gerechtigkeit vor Gericht verbunden sind.

Im Rahmen ihrer langjährigen und im Deutsch-Chinesischen Rechtsstaatsdialog eingebetteten Zusammenarbeit organisierten die Hanns Seidel Stiftung und die Chinesische Universität für Politik und Rechtswissenschaft (CUPL) am 2. Dezember 2022 einen Online-Vortrag von Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Bernd Schünemann (LMU München), in dem dieser die jüngsten Entwicklungen im Bereich des sog. „Plea Bargaining“ erläuterte.  Anschließend erörterten er und die drei teilnehmenden chinesischen Experten – Prof. Dr. Sun Yuan (UCASS), Prof. Guo Shuo, Prof. Huang He (beide CUPL) – die aktuelle Situation. Ziel war es, ein besseres Verständnis für die aktuellen Entwicklungen in beiden Ländern zu gewinnen und Anstöße für neue Ideen zur weiteren Verbesserung zu liefern.

„Plea Bargaining“ aus den USA: Nur wenig Verwendung in Deutschland

Prof. Schünemann erklärte zunächst die Grundgedanken und die Ziele, die mit dem „Plea Bargaining“ verfolgt werden. Diese Absprache soll dem Angeklagten ein abgekürztes Strafverfahren ermöglichen, wenn er sich zu einer Anklage schuldig bekennt. Der Angeklagte umgeht damit das Risiko einer schwereren Strafe durch ein Gerichtsurteil in einer offiziellen Verhandlung. Dem Gericht erspart dieser Vergleich wiederum die Arbeit der Hauptverhandlung. Diese Form der Mini-Verhandlungen sind in den verschiedenen Ländern unterschiedlich verbreitet. In den USA ist mittlerweile das gesamte Strafrechtssystem auf Vergleichsvereinbarungen ausgelegt: 97 % aller Strafverfahren auf Bundesebene werden im Rahmen von Vergleichsvereinbarungen beigelegt. In Deutschland hingegen wird dieses Vorgehen kritischer gesehen: 2018 beruhten nur rund zehn Prozent aller Landgerichts-Urteile auf einer Absprache, wobei in den unteren Instanzen diese Deals weitaus mehr Akzeptanz finden.

Noch vor 50 Jahren herrschte in Deutschland allgemeine Einigkeit in Rechtsprechung und wissenschaftlicher Literatur, dass ein derartiges Verfahren mit den Fundamenten des deutschen Strafprozesses nicht zu vereinbaren ist. Denn die staatliche Kriminalstrafe darf nur verhängt werden, wenn jemand schuldhaft eine Straftat begangen hat, und deshalb muss der Richter von der Schuld des Angeklagten überzeugt sein. Ohne diese Sicherstellung der sog. „materiellen Wahrheit“ darf der Angeklagte nicht etwa deshalb zur Strafe verurteilt werden, weil er sich ihr unterworfen hat.

Trotzdem wurden sie in den 1970er Jahren in großer Heimlichkeit immer öfter getroffen, weil die chronisch überlastete Strafjustiz auf diese Weise zu einem raschen Urteil kommen und der Verteidiger seinen Mandanten davon überzeugen konnte, dass die Unterwerfung unter eine gemilderte Strafe eine günstigere Lösung darstelle, als nach einer verlorenen Hauptverhandlung zu einer wahrscheinlich erheblich strengeren Strafe verurteilt zu werden.  Im Jahre 2009 hat dann schließlich der Gesetzgeber das sog. „Verständigungsgesetz“ erlassen, in dem er die Urteilsabsprachen für zulässig erklärte und sie dadurch mit dem System der Strafprozessordnung zu harmonisieren versuchte. Gleichzeitig schränkte er die Bindungswirkung der nunmehr als „Verständigung“ bezeichneten Absprache stark ein: Es darf nach dem neuen § 257c StPO  keine bestimmte Strafe, sondern nur eine Obergrenze zugesagt werden, von der sich das Gericht aber lösen kann, wenn es nach dem vom Angeklagten in Aussicht gestellten Geständnis oder sonst aufgrund neuerer Überlegungen daran nicht mehr festhalten will.

Prof. Schünemann selbst steht dem Vorgehen kritisch gegenüber und nennt es einen „Selbstbetrug“, die Urteilsabsprachen mit der Beibehaltung der materiellen Wahrheitsfindung zu verknüpfen, denn Zweck und Wesen der Absprachen bestehen gerade darin, die Hauptverhandlung entscheidend abzukürzen und das Gericht eben nicht dazu zu zwingen, darin die materielle Wahrheit zu ermitteln. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht ein sog. „schlankes Geständnis“, das nur in der Anerkennung der Anklage besteht, für ungeeignet erklärt. Jedoch hat es aber bemerkt, dass es ausreichend sei, wenn das Gericht die Glaubwürdigkeit des Geständnisses anhand einer einzigen Urkunde im sogenannten Selbstleseverfahren überprüfe.

Im Folgenden erläuterte Prof. Schünemann weitere Widersprüche und Schwächen des Verständigung-Verfahrens. Dass dem Angeklagten zugemutet werden soll, ein Geständnis ohne feste Bindung des Gerichts an die Absprache abzulegen, verstößt beispielsweise gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens. Denn damit wird der schwächere Teil (der Angeklagte) zur Vorleistung gezwungen.

Die vom Bundesverfassungsgericht nicht beanstandete gesetzliche Regelung lässt außerdem offen, wie der Angeklagte Sicherheit darüber gewinnen soll, dass ihm sein Geständnis überhaupt irgendetwas nützt, d.h. dass es zu einer erheblichen Strafmilderung gegenüber der eigentlich angemessenen Strafe führt.

Um ein besseres Bild darüber zu bekommen, wie stark die „Verständigung“ in der Praxis angewandt wird, haben 2020 drei strafrechtliche Lehrstühle im Auftrag des Bundesjustizministeriums eine Studie durchgeführt. Nach den aktuellen Angaben der Richter in den Fragebögen und Interviews soll die gesamte Absprachen-Quote nur zwischen 12 und 13 % liegen.

In seinem Fazit kommt Prof. Schünemann zu dem Schluss, dass zentrale Probleme des Verständigungsverfahrens bis heute völlig ungelöst sind. Damit meint er zum Beispiel die fehlende Beteiligung des Angeklagten an der der Verständigung vorausgehenden Aushandlung des Ergebnisses, worin die Zerstörung seiner Subjektstellung liegt. Hinzu kommt die fehlende Möglichkeit der Laienbeisitzer, die Fairness der Verständigung wenigstens anhand der ihnen nicht zugänglichen Ermittlungsakten zu überprüfen. Zusätzlich ist durch die Studie von 2020 bestätigt worden, dass ein ohne Verteidiger auftretender Angeklagter praktisch gar keine Möglichkeit hat, auf eine für ihn günstige Verständigung hinzuwirken, so dass der in Deutschland und Europa nur sehr eingeschränkte Anspruch des Angeklagten auf Bestellung eines Verteidigers die Fairness des Strafverfahrens gerade auch für den Fall von Verständigungen erheblich beeinträchtigt.

Sein Gesamturteil lautet deshalb: Die jüngsten Entwicklungen der Verständigung im Strafprozess in Deutschland haben die gravierenden rechtsstaatlichen Mängel des Verständigungsgesetzes offensichtlich gemacht.

Häufige Anwendung in China, aber weiterhin Optimierungsbedarf

In ihren Kommentaren gingen Prof. Sun, Prof. Guo und Prof. Huang zunächst auf die Darstellungen von Prof. Schünemann ein und erläuterten anschließend die Situation in China. Dafür gaben sie zunächst einen kurzen Überblick über das Strafrecht in China im Allgemeinen. Zu erwähnen ist hierbei vor allem, dass es deutlich häufiger zu Schuldsprüchen kommt. In 10.000 Fällen in China gibt es statistisch nur 4 Freisprüche. Ohne dass der Angeklagte vorab ein Geständnis abgelegt hat, wird er zudem deutlich schärfer sanktioniert.

Nach ersten Ideen, das System einzuführen, im Jahr 2014 und anschließenden Pilotversuchen ab 2016 wurde das Plea Bargaining-System offiziell 2018 als „Plea Leniency System“ in das chinesische Strafprozessrecht (Criminal Procedure Law) aufgenommen. Gleich von Beginn an ist es auf eine große Akzeptanz gestoßen: Laut einer 2020 durchgeführten Erhebung wurden Verständigungs-Verfahren in über 80% aller Fälle angewandt - also deutlich mehr als in Deutschland und nur leicht geringer als in den USA.  Das chinesische Plea-Bargaining-System folgt jedoch weder dem deutschen noch dem US-amerikanischen Modell, sondern weist Merkmale beider Modelle auf. Einerseits bleibt die Beweislast für die Staatsanwaltschaft in solchen Verhandlungsfällen ähnlich wie in normalen Fällen, und die Richter müssen dieselben Standards für die Wahrheitsfindung befolgen wie in normalen Prozessen. Außerdem müssen die Richter die Glaubwürdigkeit der Geständnisse von Angeklagten in Plea Bargaining-Fällen bestätigen. Andererseits folgt die chinesische Umsetzung dem US-amerikanischen Modell, bei dem Staatsanwälte eine führende Rolle übernehmen.

Auch in China wird trotz der bereits häufigen Anwendung kontrovers über das Verfahren diskutiert. Aktuell fokussieren sich die Diskussionen vor allem auf die Rolle der chinesischen Staatsanwälte und den Inhalt der Strafzumessungsempfehlung. In der Literatur wird häufig vorgeschlagen, dass die Rolle der Staatsanwälte bei der Verhandlung von Strafanträgen weiter gestärkt werden sollte und dass die empfohlene Strafe genauer sein sollte. Die Experten sehen ebenfalls deutliche Risiken und Schwächen eines solchen Verfahrens: So bestehe etwa die Gefahr, dass die Beweise in China nicht durch die Staatsanwaltschaft überprüft werden, die im chinesischen Strafrecht eine sehr dominante Rolle genießt. Außerdem ist häufig ein mangelnder Schutz der Rechte des Angeklagten festzustellen.

Durch den Austausch wurde also offensichtlich, dass Deutschland und China im Bereich des Plea Bargaining trotz unterschiedlicher Anwendungsraten im Grunde vor ähnlichen Herausforderungen stehen.

 

Autor: Ole Engelhardt