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Gastvortrag an der Fremdsprachenuniversität Peking
Struktur und Nutzen deutscher Sozialpolitik

Sie sichert Menschen unabhängig von ihrer sozialen Herkunft vor Krankheit, Unfall, Arbeitslosigkeit oder Altersarmut. Während die deutsche Sozialpolitik auf eine lange Geschichte zurückblickt, muss sie immer wieder neu gedacht werden, um mit gesellschaftlichen und technologischen Entwicklungen schrittzuhalten.

Olaf Struck, Professor für Arbeitswissenschaft an der Universität Bamberg, stellte im November 2017 vor Studierenden der Fremdsprachenuniversität Peking die Grundzüge der deutschen Sozialpolitik vor und veranschaulichte deren langfristigen ökonomischen und gesellschaftlichen Nutzen.

Die Fremdsprachenuniversität in Peking ist bekannt für ihre Deutschlandkompetenz

HSS Peking

Sozialpolitik sichert wirtschaftliche Produktivität und politische Stabilität

Ein Blick in die Geschichte der Entstehung des deutschen Wohlfahrtsstaats zeigt, dass Sozialpolitik nicht allein das Ziel verfolgt, den Menschen ein besseres Leben zu ermöglichen. Vielmehr waren von Beginn an wirtschaftliche und politische Überlegungen treibende Kräfte bei ihrer Einführung.

In Deutschland sind betriebliche Sozialleistungen älter als die staatliche Sozialpolitik. So wurden schon im 18. Jahrhundert erstmals Mitarbeiter an Unternehmen beteiligt, um im Alter von deren Gewinnen zu profitieren. Das umfassend ausgebaute Sozialsystem der Firma Krupp deckte im ausgehenden 19. Jahrhundert unter anderem Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz sowie Wohnungsbau für Mitarbeiter ab. So erkannten einige Unternehmen in Deutschland schon sehr früh den produktiven Wert von Sozialpolitik, die ihnen dabei half, ihren Bedarf an hochqualifizierten Fachkräften langfristig zu decken.

Die Fremdsprachenuniversität ist ein langjähriger Partner der HSS in China

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Eine flächendeckende Sozialpolitik in ganz Deutschland wurde erst unter Reichskanzler Otto von Bismarck in einer Reihe von Reformen in den 1870er Jahren eingeführt, deren eigentliches Ziel in der Wahrung der politischen Stabilität lag. Landwirtschaftliche Effektivitätssteigerung und Bodenreformen hatten vielen Bauern die Lebensgrundlage entzogen und so eine massenhafte Landflucht ausgelöst. In den Städten fiel daraufhin durch das entstandene Überangebot an Arbeitskräften das Lohnniveau. Arbeitslosigkeit und Armut befeuerten schließlich soziale Proteste und führten zur Gründung von Parteien, Gewerkschaften und kommunistischen Bewegungen.

Einem  Umsichgreifen revolutionärer Tendenzen konnte die Regierung jedoch durch die Einführung einer staatlichen Sozialpolitik erfolgreich entgegenwirken. Wichtig war hier unter anderem die Altersversicherung. So errichtete die Regierung ein System, in dem die Menschen während ihrer Berufstätigkeit in eine Rentenkasse einzahlten, deren Verwaltung dem Staat unterlag. Die hierdurch ermöglichte finanzielle Absicherung, aber auch die damit einhergehende finanzielle Abhängigkeit vom Staat, trug zur politischen Stabilität bei, da die Menschen nun ein direktes Interesse an der Aufrechterhaltung der bestehenden Strukturen hatten. Auch die Kranken- und Unfallversicherung sowie wegweisende Reformen im Bereich der Beruflichen Bildung gehen auf diese Zeit zurück.

Die guten Deutschkenntnisse der Studierenden machten eine Übersetzung des Vortrags überflüssig

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Aktive Arbeitsmarktpolitik als Hilfe zur Selbsthilfe

Das Budget der fünf Sozialversicherungssysteme in den Bereichen Rente, Gesundheit, Arbeitslosigkeit, Pflege und Unfallvorsorge machte im Jahr 2016 rund 18% des Bruttoinlandsprodukts der Bundesrepublik aus. Die mit Abstand höchsten Ausgaben verursachten dabei die klassischen Grundsicherungssysteme der Renten- und Krankenversicherung. Die Arbeitslosenversicherung hingegen ist an dritter Stelle nur für knapp drei Prozent der Gesamtsozialversicherungsausgaben verantwortlich.

In diesem Zusammenhang erläuterte Struck die in der Fachdiskussion getroffene Unterscheidung zwischen aktiver und passiver Arbeitsmarktpolitik. Demnach werden Geldleistungen an Arbeitslose zur Gewährleistung der Grundsicherung als passive Arbeitsmarktpolitik bezeichnet, berufliche Qualifizierungsmaßnahmen hingegen sind Kern einer aktiven Arbeitsmarktpolitik, mittels derer der Staat Armut und sozialer Ausgrenzung proaktiv vorbeugen kann. Die aktive Arbeitsmarktpolitik, für die deutlich weniger Ausgaben anfallen als für die passive, stellt somit ein wertvolles Instrument zur Erreichung eines nachhaltigen gesamtgesellschaftlichen Nutzens bei verhältnismäßig geringem fiskalischem Aufwand dar.

Sozialpolitik entfaltet zudem einen ökonomischen Nutzen, indem sie Individuen befähigt, langfristig zu planen und im Sinne ihrer eigenen beruflichen sowie auch der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung höhere Risiken einzugehen. Sorgen vor Alter, Krankheit, Unfall, Armut und sozialem Abstieg spielen im Arbeitsalltag eine geringere Rolle und verlieren somit ihre hemmende Wirkung. Indem Sozialpolitik den Menschen den unmittelbaren Zwang zur Lohnarbeit nimmt, schafft sie außerdem mehr Raum für höhere Qualifizierung.

Weiterhin kommt es in Deutschland ebenso wie in China vor dem Hintergrund wirtschaftlicher Veränderungen immer wieder zu Unternehmensschließungen und -umstrukturierungen. Ein stabiles soziales Netz hilft, diese Umwälzungen abzufedern, sodass Beschäftigte wie Unternehmen flexibler auf neue Herausforderungen reagieren können.

Auf dem Campus der Peking Universität - hier hielt Struck einen Vortrag zum Strukturwandel in Ostdeutschland

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Bei allen Vorzügen seiner umfänglichen Sozialpolitik muss sich der deutsche Staat jedoch auch gegen Leistungsmissbrauch schützen. Vor diesem Hintergrund besteht nur für diejenigen Menschen ein Recht auf Arbeitslosengeld, die tatsächlich nicht arbeiten können, beziehungsweise sich aktuell in einer Qualifizierungsmaßnahme befinden. Der Anspruch auf Umqualifizierung im Zuge sich verändernder Arbeitsmarktanforderungen ist breiter gesellschaftlicher und politischer Konsens. Unterschiede zwischen verschiedenen Parteien ergeben sich erst bei der Frage, inwieweit auch eine zweite oder dritte Umqualifizierung ermöglicht werden soll.

Wenn staatliche Leistungen zur Grundsicherung gezahlt werden, orientieren sich diese stets am Grundbedarf, das heißt sie ermöglichen zwar ein würdiges Leben, sollen aber deutlich geringer sein als ein durch Erwerbsarbeit erzieltes Einkommen. So liegt die Grundsicherung bei Alleinstehenden bei nur etwa einem Drittel des Durchschnittseinkommens aller Single-Haushalte, langzeitarbeitslose Paare ohne Kinder haben sogar nur rund ein Fünftel des Durchschnittseinkommens aller kinderlosen Paare zur Verfügung. Das relative Wohlstandsdefizit und die damit verbundene soziale Stellung sind somit ein starker Anreiz zur Aufnahme von Erwerbsarbeit.

Mehrere Professoren der Peking Universität waren gekommen, um das Thema mit Prof. Struck zu diskutieren

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Herausforderungen für die Zukunft

Die Charakteristika von Erwerbsarbeit haben sich mit der Zeit gewandelt und auch das Sozialsystem muss mit diesen Veränderungen schritthalten.

Während das Rentensystem bis heute auf die klassische Normalbiografie mit rund 45 Jahren Berufstätigkeit bei durchschnittlichem Lohnniveau ausgerichtet ist, gibt es immer mehr atypische Lebensverläufe, in denen Phasen der Beschäftigung sich mit Phasen der Arbeitslosigkeit, der Umqualifizierung und der Teilzeitbeschäftigung abwechseln. Auch Frauen, die erziehungsbedingt mehrere Jahre nicht berufstätig sind, und im Alter nicht von der Rente eines Ehemanns profitieren können, stehen häufig vor ähnlichen Problemen.

So sind in Deutschland heute rund 20 Prozent der Menschen nicht in der Lage, sich eine eigenständige, auskömmliche Altersversorgung aufzubauen. Wirkungsvolle Lösungsansätze für dieses Problem konnten bisher kaum gefunden werden, auch weil die Betroffenen häufig nur über geringe Qualifikation verfügen und trotz Förderbemühungen häufig keinen Weg in eine langfristig stabile Beschäftigung finden.

Um den Austausch um einen zusätzlichen Aspekt zu erweitern, hielt Struck am Folgetag an der Peking Universität einen weiteren Gastvortrag, in dem er die sozialen Folgen des wirtschaftlichen Strukturwandels in Ostdeutschland nach der Wiedervereinigung erörterte.

 

Autor: Dominik Sprenger