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Anerkennung und Vollstreckung von Urteilen in Abwesenheit – Theorie und Praxis der Rechtshilfe in Strafsachen in Europa und China
Digitaler Austausch mit der China Universität für Politik und Rechtswissenschaft (CUPL)

Am 12. November 2021 organisierte die Hanns-Seidel-Stiftung (HSS) zusammen mit der China Universität für Politik und Rechtswissenschaft (CUPL) einen online durchgeführten Austausch über zwei sehr komplexe rechtswissenschaftliche Fragen im internationalen Kontext: Wie kooperieren die europäischen Länder bei der grenzüberschreitenden Strafverfolgung? Und wie wird innerhalb der Europäischen Union ein Urteil vollstreckt, wenn der Beschuldigte abwesend ist? Mit seinen Ausführungen schloss Professor Dr. Bernd Schünemann thematisch somit auch an das 4. Deutsch-Chinesische Strafrechtssymposium aus dem Jahr 2018 an.

Die Veranstaltung fügte sich in die langjährige und vertrauensvolle Kooperation der Hanns-Seidel-Stiftung (HSS) mit der China Universität für Politik und Rechtswissenschaft (CUPL), die zudem eingebettet ist in den Deutsch-Chinesischen Rechtsstaatsdialog. Pandemie-bedingt fand der Austausch zwischen Professor Dr. Bernd Schünemann (Ludwig-Maximilians-Universität München, LMU) und seinen chinesischen Kollegen Prof. Sun Yuan (Universität der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften, UCASS) und Prof. Guo Shuo (CUPL) im Online-Format statt. Die den Vorträgen folgende Diskussion wurde von Ass. Prof. Dr. Huang He moderiert.

Die „steinzeitliche“ Strafrechtsverfolgung

Prof. Schünemann begann seinen Vortrag „Anerkennung und Vollstreckung von Urteilen in Abwesenheit – Theorie und Praxis der Rechtshilfe in Strafsachen in Europa“ mit einer kurzen Schilderung des Status Quo der internationalen Kooperation in der Strafverfolgung. Die Globalisierung hat nicht nur friedliebende Menschen näher zusammengebracht, sondern auch das strafbare Verhalten globalisiert. Verglichen mit dieser „Globalisierung des Verbrechens“ wirkt die internationale Verbrechensverfolgung jedoch noch wie ein Relikt aus der Steinzeit, befindet Prof. Schünemann. Es mangelt an grenzüberschreitender Kooperation zur Verfolgung und Bestrafung von Straftätern.

s gibt keinen allgemeinen Grundsatz des Völkerrechts, wonach ein Staat gegenüber einem anderen Staat zur Auslieferung einer Person verpflichtet wäre. Die Basis für eine Auslieferungspflicht kann deshalb nur durch einen Vertrag geschaffen werden – bilateral oder multilateral. Deutschland ist Partner einer ganzen Reihe sowohl bilateraler als auch multilateraler Verträge, in denen auch Auslieferungspflichten geregelt sind. Zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik China besteht kein solcher Vertrag. In einem solchen sog. „vertragslosen Zustand“ wäre nach traditioneller Auffassung zwar kein Staat zur Auslieferung verpflichtet, aber er könnte sich rein faktisch dazu bereit erklären. Nach neuerer Auffassung ist das jedoch zweifelhaft. Denn während man früher davon ausging, dass der ausliefernde Staat durch die Auslieferung nicht selbst ein Strafverfahren führt, sieht die moderne Auffassung die Auslieferung als eine „strafverfahrensrechtliche Hilfstätigkeit“, für die es einer eigenen Rechtsgrundlage bedarf. Selbst wenn es in Zukunft zum Abschluss eines bilateralen Auslieferungsvertrages kommen sollte, wären dabei eine Reihe von Grenzen der Auslieferung zu beachten. Ein solches Auslieferungshindernis ergibt sich zum Beispiel aus Art. 102 Grundgesetz. Die darin proklamierte Abschaffung der Todesstrafe verbietet nach richtigem Verständnis auch eine Auslieferung, die zu einer Todesstrafe führen könnte. In der Praxis ist dieses Auslieferungshindernis aber ausräumbar, wenn nämlich der die Auslieferung beantragende Staat in verbindlicher Weise erklärt, im konkreten Fall keine Todesstrafe auszusprechen.

Innerhalb Europas gibt auf der einen Seite das große Dach des europäischen Auslieferungsübereinkommens, das als multilaterales Abkommen die Auslieferung unter den Staaten des Europarates generell regelt. Da diese Staaten zugleich Mitglied der europäischen Menschenrechtskonvention sind, gelten die darin zu findenden Auslieferungsbeschränkungen ohne Weiteres auch für das europäische Auslieferungsübereinkommen. Für den engeren Bereich der Europäischen Union (EU) gab es zunächst ein spezielleres Auslieferungsübereinkommen von 1996, das mittlerweile aber durch die Institution des „europäischen Haftbefehls“ verdrängt worden ist, die auf einem im Jahr 2002 vom Rat der EU beruht. Das Wesen des europäischen Haftbefehls besteht darin, durch einen Direktverkehr zwischen den beteiligten Justizbehörden die Strafverfolgung enorm zu beschleunigen, wodurch die Überstellung von einem Staat in den anderen nicht nur von einer Überprüfung des Tatverdachts, sondern für viele Delikte sogar von dem Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit befreit werden sollte. Nach Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses ist die Auslieferung - die nunmehr „Übergabe“ genannt wird - für 32 Deliktsgruppen ohne Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit vorzunehmen. Die Beschreibung der meisten Gruppen erfolgt allerdings so allgemein und ungenau, dass offensichtlich wird, dass der konkrete Strafbarkeitsumfang in den verschiedenen Mitgliedstaaten nicht identisch ist. Beispiele hierfür sind die Deliktsgruppen der Korruption, der Betrugsdelikte, des Rassismus oder der Fremdenfeindlichkeit.

Paradoxe Regeln für Urteile in Abwesenheit

Im zweiten Teil seines Vortrags kam Prof. Schünemann auf die internationalen Regelungen zur Verurteilung in Abwesenheit zu sprechen – etwas, das in den verschiedenen Rechtsordnungen in höchst unterschiedlicher Weise zugelassen oder ausgeschlossen ist. So ist etwa in Italien und Frankreich die Durchführung eines Verfahrens in Abwesenheit des Angeklagten sogar wegen solcher Delikte zulässig, die mit einer mehrjährigen Freiheitsstrafe geahndet werden können. Gegen eine solche Verurteilung kann nach italienischem und französischem Recht später auch keine Wiederaufnahme beantragt werden, sofern der Angeklagte förmlich auf die Hauptverhandlung hingewiesen und dazu geladen worden war. Mit der europäischen Menschenrechtskonvention und mit der Grundrechtecharta der Europäischen Union, die ausdrücklich ein Anwesenheitsrecht des Angeklagten vorsehen, sind diese Regeln deshalb zu vereinbaren, weil der Angeklagte danach auf sein Anwesenheitsrecht verzichten kann und sein Ausbleiben trotz ordnungsgemäßer Ladung in diesem Sinne interpretiert wird.

Gänzlich anders ist die Rechtslage in Deutschland, wo ein Abwesenheitsverfahren nur in Bagatellfällen zulässig ist. Der Grundgedanke dahinter ist, dass sowohl über die Beweisaufnahme als auch über die Persönlichkeit des Angeklagten nur gerecht entschieden werden kann, wenn er selbst vor den Schranken des Gerichts steht und auf die Beweisaufnahme einwirken kann.

Angesichts dieser liberalen deutschen Rechtslage muss es überraschen, dass Deutschland einem EU-Rahmenbeschluss zugestimmt und ihn in deutsches Recht übernommen hat, der den ursprünglichen Rahmenbeschluss über den europäischen Haftbefehl in der Weise ergänzte, dass die Überstellung von Beschuldigten in andere EU-Staaten auch zur Vollstreckung von Abwesenheitsurteilen erfolgen muss - sofern der Angeklagte nur zu der Hauptverhandlung ordnungsgemäß geladen gewesen war.

Vor diesem Hintergrund betrachtet, wirkt der Umgang der deutschen Justiz mit abwesenden Beschuldigten paradox. Auf dem eigenen Territorium wird das Abwesenheitsverfahren abgelehnt, während gleichzeitig auf der EU-Ebene einem Rahmenbeschluss zugestimmt worden ist, der die Auslieferung zur Vollstreckung eines Abwesenheitsurteils allein an die Bedingung knüpft, dass der Verurteilte zu der Verhandlung unter Hinweis auf die Möglichkeit eines Abwesenheitsurteils persönlich geladen worden war.

 

Nach dieser ausführlichen Darstellung erinnerte Prof. Schünemann an seine Eingangsworte, mit denen er ein eher ernüchterndes Urteil über die aktuellen strafrechtlichen Reglungen im europäischen Raum fällt. Im Anschluss an die Globalisierung der ökonomischen Beziehungen ist auch die Globalisierung der Kriminalität weit vorangekommen. Im Verhältnis dazu hinkt die Globalisierung der Kriminalitätsverfolgung jedoch noch Jahrzehnte hinterher.

 

Autor: Ole Engelhardt