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Akademischer Dialog mit der Zentralen Parteihochschule
„Aufbau von öffentlichen Altenpflegeeinrichtungen und Entwicklung verschiedener Arten von Altenpflegedienstleistungen in Deutschland und China“

Mittlerweile ist in wirtschaftlich entwickelten Ländern das demografische Problem der Überalterung nicht mehr neu, auch Deutschland und China bilden keine Ausnahmen. Die Prognosen in beiden Ländern machen deutlich, dass der Anteil der älteren Menschen in den nächsten Jahren weiter deutlich ansteigen wird. Die Hanns Seidel Stiftung und die Hochschule des Zentralkomitees der KP Chinas haben daher erneut Online-Dialog organisiert, auf dem sich ausgewiesene Experten aus beiden Ländern über diese Thematik ausgiebig austauschen konnten. Dieses Mal ging es konkret um den Aufbau von Altenpflegeeinrichtungen und verschiedene Arten von Altenpflegedienstleistungen.

 

Auf Einladung der Hanns-Seidel-Stiftung (HSS) und der Nationalen Verwaltungsakademie der Hochschule des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas (PH) tauschten sich am 14. Dezember 2022 jeweils zwei deutsche und chinesische Experten in einem Online-Dialog über die Herausforderung der alternden Gesellschaft aus. Ziel war es, durch diesen bilateralen Austausch neue Denkanstöße zu geben, wie älteren Menschen mit Beeinträchtigungen ein würdevolleres Leben geboten werden kann und wie sie bei der Nutzung digitaler Technologien unterstützt werden können. Auf chinesischer Seite referierten Frau Prof. Dr. Ye Xiangqun (Abteilung für Öffentliche Verwaltung bei der Parteihochschule) und Prof. Li Zhiming (Abteilung für Soziale und Ökologische Zivilisation). Aus Deutschland waren Frau Prof. Dr. Gabriele Meyer (Inhaberin der Professur für Gesundheits- und Pflegewissenschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und Leiterin des Instituts für Gesundheits- und Pflegewissenschaft der Medizinischen Fakultät Halle) und Prof. Dr. rer. medic. Martin Müller, MPH (Abteilung für Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung des Universitätsklinikum Heidelberg und Leiter des Bachelor-Studiengangs Interprofessionelle Gesundheitsversorgung), im Einsatz.

China: Tech-Lösungen sollen bei der Herausforderung helfen

In ihren Vorträgen „Funktionalität und Entwicklungsansätze für öffentliche Altenpflegeeinrichtungen in China“ und „Die synergetische Entwicklung von physischen und virtuellen Formaten von Altenpflegedienstleistungen in China“ gingen Frau Prof. Dr. Ye Xiangqun und Prof. Li Zhiming auf die derzeitige Ausgangslage in China und die verschiedenen Maßnahmen ein. Prof. Ye verdeutlicht den starken Anstieg des Anteils der älteren Bevölkerung: machten über 65-jährige im Jahr 1953 noch 4,4 Prozent der Gesamtbevölkerung aus, waren es 2020 bereits 13,5 Prozent. Erst für 2050 wird der Höchststand der Alterung erwartet, die Zahl der mindestens 80-jährigen könnte dann 100 Millionen erreichen. Automatisch steigt damit auch der Anteil der Menschen mit chronischen Krankheiten, da diese vor allem bei Älteren ausgeprägt sind. Vor allem ab 2000 hat die Regierung verschiedene Maßnahmen zur Stärkung des Altenpflegesystems vorangetrieben, in den 2010er Jahren wurden dann etliche Pilotprojekte auf lokaler Ebene getestet, die im Erfolgsfall auf das ganze Land ausgeweitet wurden. Aufgrund der Tatsache, dass wegen der Urbanisierung immer seltener drei Generationen in einem Haus wohnen, ist die Schaffung von Altenpflegeeinrichtungen immer dringlicher geworden. Diese werden nun nicht nur von öffentlichen Trägern, sondern auch von privaten Akteuren gegründet. Allerdings sind immer noch sehr viele nicht in der Lage, auf die teilweise komplexen Bedürfnisse der häufig kranken alten Menschen einzugehen. Die Senioren verfügen andererseits in vielen Fällen nicht über ausreichende finanzielle Mittel. Frau Prof. Ye schlägt in diesem Kontext vor, mehr Drittbewertungsstellen einzurichten, um ein objektives Bild über den Zustand der Einrichtungen zu erhalten. Aufgrund der unterschiedlichen Preisstrukturen kommt es zudem häufig zu dem Problem, dass es in den (preiswerten) öffentlichen Einrichtungen zu wenig Betten gibt, während sie in den (teureren) privaten Einrichtungen freistehen. Für die Zukunft wird es Prof. Ye vor allem wichtig sein, auf der einen Seite die Pflegeversicherung auszuweiten und andererseits die Ausbildung des Pflegepersonals zu stärken. Prof. Li ging noch näher auf dieses strukturelle Paradoxon ein, dem gleichzeitigen Überschuss und Mangel an Betten. Nicht nur gilt es zwischen privaten und öffentlichen Einrichtungen zu unterscheiden, sondern auch zwischen solchen in der Stadt (relativ voll) und solchen in ländlichen Räumen (relativ leer). Eine mögliche Lösung für dieses Problem könnten „virtuelle Pflegeheime“ sein - eine innovative Form der „häuslichen Pflege + Altenpflegedienste", die sich auf eine auf IT-basierende Plattform für Altenpflegedienste stützt. Die Einrichtung solcher virtueller Pflegeheime hat das vormals „fragmentierte“ Angebot an Altenpflegeleistungen wirksam ausgeweitet. Auch der Einsatz moderner Informationstechnologie hat die Effizienz der Altenpflegedienste erheblich verbessert und den Radius der Altenpflegedienste erweitert. Heutzutage, nach mehr als einem Jahrzehnt Erfahrung, lässt sich der Betrieb von Chinas „virtuellen Pflegehäusern" allgemein als staatlich geförderter, marktorientierter Betrieb, Informationsmanagement und spezialisierte Dienstleistungen zusammenfassen, die Merkmale wie die Ausweitung von Dienstleistungsgruppen, diversifizierte Dienstleistungsinhalte und herausragende intelligente Merkmale aufweisen. Im Vergleich zu physischen Heimen hat das „virtuelle Heim" u.a. den großen Vorteil, dass es Arbeitskräfte einspart, so können fast alle Bedürfnisse älterer Menschen in ländlichen Gebieten, Behinderter und älterer Menschen im Allgemeinen mit Hilfe der Plattform und intelligenter Dienstleistungen erfüllt werden. Aufgrund dieser Erfahrung ist Prof. Lis Vorschlag, dass es bei der Entwicklung von häuslichen Pflegebetten notwendig ist, die intelligente Dienstleistungsplattform für die Altenpflege tief zu verankern, die Technologie vollständig zu nutzen, die Einrichtungen für die Altenpflege als Grundlage zu nehmen, das Internet und die Technologie des Internets der Dinge (IoT) als Mittel zu nutzen, um ein Dienstleistungsnetzwerk aus „Einrichtungen + Familien" aufzubauen. Bei der Entwicklung von häuslicher Pflege sollte besonderes Augenmerk auf die Regulierung der Dienstleistungen und eine sichere Entwicklung gelegt werden. Insbesondere sollten der Dienstleistungsvertrag standardisiert, der Umfang der Dienstleistungen geklärt, die Überwachung und Bewertung des Prozesses, des Dienstleistungsinhalts und der Dienstleistungsqualität von häuslichen Pflegediensten gestärkt, die Ausbildung in Berufsethik und beruflicher Kompetenz des Personals von häuslichen Pflegediensten verbessert, der Dienstleistungskredit der Praktiker verbessert und die Sicherheitsbasis von häuslichen Pflegediensten aufrechterhalten werden.

Deutschland: Potenzial von Pflegerobotern noch nicht gut genug untersucht

In den Vorträgen von Prof. Dr. Gabriele Meyer, „Gesundheits- und Langzeitpflegeleistungen für ältere Menschen in Deutschland“, und Prof. Martin Müller, „ Potentiale des Einsatzes von robotischen Systemen in der Pflege“, erklärten die beiden Experten, wie Deutschland versucht, mit dem Problem der Alterung umzugehen. Auch in Deutschland besteht das Risiko eines prekären Personalmangels, das sich aus einem Fehlverhältnis zwischen komplexen Bedarfen Pflegebedürftiger und verfügbaren Kompetenzen ergibt, mahnte Prof. Meyer gleich zu Beginn. Ein bedeutender Grund dafür ist, dass es zwar trotz vieler Auszubildender auch viele gibt, die schnell die Intention haben, ihren Beruf zu verlassen – vor allem seit Beginn der COVID-19-Pandemie. Stand 2019 wurden von insgesamt 4,1 Millionen Pflegebedürftigen 3,3 Mio. Zuhause und 800.000 in einem Heim gepflegt. Pflegebedürftig qua Sozialgesetzbuch sind jene, die „gesundheitlich bedingte Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten aufweisen und deshalb der Hilfe durch andere bedürfen.“ Zur objektiveren Beurteilung der Pflegebedürftigkeit wurde ein sog. Begutachtungsinstrument erstellt, der sechs Kategorien beurteilt: Gestaltung des Alltags, Kognitive und kommunikative Fähigkeiten, Selbstversorgung, Bewältigung von krankheitsbedingten Anpassungen. Mobilität und Verhaltensweisen. Ziel der Pflege in Deutschland ist u.a. die Förderung und Erhalt der Teilhabe, der Erhalt, Förderung bzw. Kompensation der Funktionsfähigkeit (ATLs), die Förderung von Wohlbefinden und Behaglichkeit oder die Wahrung der Würde und Integrität.

Da natürlich auch in Deutschland überproportional viele Senioren an Krankheiten leiden, hat das zuständige Ministerium die Nationale Demenzstrategie ins Leben gerufen. Zu den vier explizit genannten Zielen gehört auch, Strukturen zur gesellschaftlichen Teilhabe von Menschen  mit Demenz an ihren Lebensort aus- und aufzubauen. Frau Prof. Meyer war zudem an mehreren Studien beteiligt, in denen untersucht wurde, wie es Menschen trotz ihrer Demenzkrankheit ermöglicht werden kann, weiter Zuhause zu leben. Vorherige Studien hatten gezeigt, dass eine Verlegung ins Heim den Zustand häufig eher verschlechtert. Auch spricht sich die Experten für einen geringeren Einsatz von Psychopharmaka aus, da auch hier viele Studien tendenziell negative Folgen vermuten lassen.

Prof. Müller beleuchtete in seinen Ausführungen die Herausforderungen und möglichen Chancen beim Einsatz von Robotern in der Pflege. Darunter werden im Allgemeinen programmierte, in Bewegung zu setzende Mechanismen verstanden, mit einem gewissen Grad an Autonomie zur Durchführung von Fortbewegung, Manipulation oder Positionierung. Im Kontext der Pflege unterscheidet man meist zwischen sozial-interaktiven Robotern, Rehabilitationsrobotern oder Telepräsenz- und Assistenzrobotern. Sie werden entweder zur Übernahme einfacher bis hochkomplexe Aufgaben im Pflegeprozess, zur Entlastung von Pflegepersonen von illegitimen Aufgaben (Versorgung und Logistik) oder im pflegerischen Setting eingesetzt. Jedoch müssen bislang immer noch stets Pflegekräftig anwesend und involviert sein. Aktuell gibt es in Deutschland 107 Roboter für ältere Menschen, wobei sich die Mehrzahl (101) noch in der Entwicklungs- bzw. Konzeptphase befinden. Ein großes Problem ist Stand jetzt, dass egal auf welchen speziellen Teilbereich man schaut, die Studienqualität noch nicht ausreichend ist, um Schlussfolgerungen zu ziehen: Ein Bezug zur Lebenswelt der Nutzenden sowie ein Nachweis von Wirksamkeit fehlen noch.

Das liegt vor allem daran, dass robotische Systeme komplexe Interventionen sind. Sie umfassen mehrere Komponenten (Robotisches System, Schulungen, Wartungskonzept, …), verschiedenen Nutzergruppen, verschiedene Settings, verschiedenen Aufgaben sowie mehrere Ziele auf verschiedenen organisationalen Ebenen.

Als ein vielsprechendes Beispiel nannte Prof. Müller zum Schluss noch einen humanoiden zweiarmigen Assistentzroboter als Alltagsunterstützung für ältere und potenziell pflegebedürftige Menschen. Der Schwerpunkt bei diesem Projekt liegt auf der intuitiven Interaktion zwischen Mensch und Assistenzroboter.  Seine relevanten Anwendungsbereiche sind vor allem das Anbieten von Getränken und Snacks, Hilfe bei der Nahrungsaufnahme, Fokus auf ausreichende Nahrungs- bzw. Flüssigkeitszufuhr, das Servieren und Abräumen von Tabletts sowie Unterstützung beim häuslichen Leben und bei der Mobilität. Die vorläufigen Ergebnisse fallen bislang äußerst positiv aus, nicht zuletzt wegen der grundsätzlichen Akzeptanz seitens der Pflegepersonen  im Umgang mit einem humanoiden Roboter.

Zukünftig muss es Prof. Müller zufolge darum gehen, die Unterstützung bei der Weiterentwicklung der Technologie in Richtung eines möglichen praktischen Nutzens unter Einbeziehung realistischer Ziele zu stärken. Auch müssten präzise Evaluations- und Implementierungskonzepte sowie im nächsten Schritt Wirksamkeitsstudien erstellt werden.

Als Herausforderungen nannte der Experte u.a. die bedenkliche Diskrepanz zwischen tatsächlichem Entwicklungsstand und öffentlicher Wahrnehmung, die zu einem erhöhten Innovationsdruck führen könnte. Zudem warnte er vor unreflektiertem Optimismus in allen Lebensbereichen. Allen müsse klar sein, dass auch ein Scheitern möglich ist. Letztlich fehlt wie bereits erwähnt auch noch eine ausreichende Studienlage.

 

Autor: Ole Engelhardt