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Akademischer Dialog mit der Parteihochschule
„Altersforschung in Deutschland und China: Aufbau von Unterstützungssystemen für ältere Menschen auf Quartierebene“

In Deutschland ist das Problem der gesellschaftlichen Alterung schon seit vielen Jahren ein Schwerpunkt der Politik, dem mit etlichen Reformen wie nicht zuletzt der Erhöhung des Renteneintrittsalters versucht, Herr zu werden. Auf der anderen Seite gilt es aber natürlich auch die Frage zu lösen, wie altersgerecht mit der zunehmenden Anzahl an Senioren umgegangen werden kann – hier geht es um Konzepte der Alterspflege. Mit seinem rasanten Wirtschaftswachstum und der damit einhergehenden Verbesserung der Lebensbedingungen steht nun auch China vor ähnlichen Herausforderungen. Aus diesem Grund lud die Hanns Seidel Stiftung in Zusammenarbeit mit der Hochschule des Zentralkomitees der KP Chinas zu einem Online-Symposium, bei dem sich Fachexperten aus den beiden Ländern detailliert über das Thema austauschten, um gegenseitig Lösungsvorschläge aufzuzeigen.

Auf Einladung der Hanns-Seidel-Stiftung (HSS) und der Nationalen Verwaltungsakademie der Hochschule des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas (PH) tauschten sich am 16.  Juli drei deutsche und drei chinesische Experten in einem Online-Symposium über die unterschiedlichen Altenpflegemodelle in ihren Ländern aus. Ziel war es, durch diesen bilateralen Austausch neue Denkanstöße zur Bewältigung der Altersherausforderung zu erhalten. Auf chinesischer Seite referierten Frau Prof. Dr. Ye Xiangqun (Abteilung für Öffentliche Verwaltung bei der Parteihochschule) und Prof. Li Zhiming (Abteilung für Soziale und Ökologische Zivilisation). Frau Prof. Dr. Chu Songyan (stellvertretende Leiterin der Abteilung für Soziale und Ökologische Zivilisation) moderierte den Diskurs und schloss ihn mit einem Fazit ab. Aus Deutschland waren Prof. Univ.-Prof. Dr. phil. Dr. h.c. Dipl.-Psych. Andreas Kruse (Institut für Gerontologie an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg) und Prof. Dr. med. Johannes Pantel (Leiter des Arbeitsbereichs Altersmedizin an der Goethe-Universität Frankfurt a.M.) zugeschaltet.

China: Altenpflege auf Quartiersebene

In ihren Vorträgen „Der Aufbau eines bedarfsorientierten geriatrischen Unterstützungssystems auf Quartierebene“ und „Der Aufbau von Unterstützungssystemen für ältere Menschen auf Quartierebene auf Grundlage gemeinschaftsbasierter Dienstleistungen zu häuslicher Pflege“ stellte und Prof. Ye und Prof. Li dar, welche Altenpflegemodelle in China aktuell existieren und welche Ideen bzw. Pilotmodelle es für die Zukunft gibt.

Prof. Ye lieferte zunächst einige wichtige grundlegende Fakten: So hat der siebte Zensus im Jahr 2020 hat ergeben, dass Chinas Gesamtbevölkerung 1,42 Milliarden beträgt. 264,02 Millionen davon sind Menschen über 60 Jahre, was 18,70 Prozent entspricht. 190,64 Millionen Menschen oder 13,5 Prozent sind sogar über 65 Jahre – 2010 waren es noch 8,9 Prozent. Diese (positive) Entwicklung ist auf eine Reihe unterschiedlicher Fakten wie die steigende Lebenserwartung, eine bessere medizinische Versorgung und weniger chronisch Erkrankte zurückzuführen. Im Zuge der Verstädterung lässt sich das in China traditionell praktizierte familiäre Pflegesystem jedoch häufig nicht mehr aufrechterhalten, da einerseits viele Kinder (wegen der Ein-Kind-Politik häufig Einzelkinder) fernab von ihren Eltern wohnen und sich auch die Zahl der sog. „Empty Nesters“, also Paaren ohne Kinder, erhöht hat. Zusammen haben diese beiden Trends eine gestiegene Nachfrage nach neuen Formen von Altenpflegedienstleistungen in China erzeugt. Die chinesische Regierung hat sich dieses Problems angenommen und unter anderem landesweit Pilotzonen für die Reform häuslicher Pflege und Pflege im Wohnviertel (Quartier, chinesisch „Shequ“) geschaffen. Die Teilnehmenden Gebiete werden zum Beispiel mit Steuererleichterungen oder Zuschüssen für Bau- und Betriebskosten unterstützt. Die konkrete Umsetzung der Pflegeleistung wird auf der Dorfebene geleistet, häufig engagieren sich dabei auch ältere Menschen, die noch bei guter Gesundheit sind, für die Pflege anderer pflegebedürftiger Senioren. Auch wenn durch diesen „community-based“-Ansatz im Laufe der Zeit innovative und umfangreiche Pflegekonzepte entwickelt werden konnten, steht China weiter vor Herausforderungen. Das Angebot an dringend benötigter medizinischer Versorgung und Rehabilitationsleistungen für ältere Menschen ist zum Beispiel noch nicht ausreichend. Auch verfügt ein großer Anteil der Gemeinschaften bislang noch über unzureichende öffentliche Hilfseinrichtungen für ältere Menschen. Und generell gilt, dass die Ressourcen für gemeinschaftliche Dienste noch sehr zerstreut sind, anstatt effektiv gebündelt.

 

Aus Prof. Yes Sicht ist es für die Zukunft elementar wichtig, die Bedürfnisse der älteren Menschen noch besser zu verstehen – diese auch wissenschaftlich zu ermitteln -, noch mehr gesellschaftliche Akteure und digitale Hilfsmittel in die Betreuungsarbeit einzubeziehen und die Wohnviertel altengrecht auszustatten. Dafür gilt es auch, die aus den verschiedenen Pilotprojekten gewonnenen Erkenntnisse zu bündeln und daraus ein landesweit einheitliches langfristiges Pflegeversicherungssystem zu schaffen. Unerlässlich erfordert dies natürlich auch eine Verbesserung der Ausbildung des Altenpflegepersonals mit einheitlichen Qualifikationsnachweisen. Prof. Li erläuterte in seinem Vortrag ergänzend zu diesen Ausführungen die in China angewandten Pflegekonzepte, die sich primär in Pflege zu Hause, Pflege im Wohnviertel oder Pflege in speziellen Einrichtungen aufteilen. Viele Städte legen mithilfe eines Zahlenkürzels ihren lokalen Altenpflegeplan fest: Wenn Shanghai also von „9073“ spricht, heißt das, dass in der Stadt 90 Prozent zu Hause, 7 Prozent im Wohnviertel und 3 Prozent in Einrichtungen gepflegt werden. Allerdings stellt das wohnviertelbasierte Altenpflegemodell laut Prof. Li nicht zwingend einen eigenständigen Haupttypen dar, sondern vielmehr eine Art Dienstleistungsplattform, das sich bei den beiden anderen Pflegetypen bedient. Die Gemeinde nimmt aus seiner Sicht hier als eine Brückenfunktion zwischen häuslicher und institutioneller Pflege ein. Zu einigen wichtigen Merkmalen dieses quartierbasierten Unterstützungssystems gehören nicht nur traditionelle Dienstleistungen wie Pflege im Alltag und Hausverwaltungsdienste, sondern auch moderne Dienstleistungen wie medizinische Versorgung, Rehabilitation und Pflege, sowie geistiger/psychologischer Support, Kultur, Unterhaltung und Angebote zur Selbstentfaltung. Auf diese Weise sollen die vielschichtigen und diversifizierten Bedürfnisse der älteren Menschen erfüllt werden. Aus funktionaler Sicht kann das System die Defizite der Familien bei der Bereitstellung umfassender Altenpflegeleistungen ausgleichen und gleichzeitig das Problem unzureichender systemischer und standardisierter sozialer Altenpflegeleistungen auf einer einzigen Basis lösen. Es ist deshalb nicht nur dafür förderlich, um die Grenzen der traditionellen nicht-spezialisierten, familiären Altenpflege zu überwinden, sondern löst auch die Probleme der unzureichenden emotionalen Nähe und der hohen Gebühren der institutionellen Altenpflege.

Abschließend nennt Prof. Li drei wichtige Voraussetzung für die Etablierung eines von ihm beschriebenen Systems: Erstens sei eine Verbesserung der Sozialversicherungssysteme für Alter und medizinische Versorgung sowie die Einrichtung einer Pflegeversicherung zur finanziellen Absicherung des gemeindebasierten, häusliche Unterstützungssystems erforderlich. Zweitens gelte es, verstärkt das Internet und andere digitale Hilfsmittel einzubeziehen. Dann ist es zweifellos notwendig, die Förderung der Personalentwicklung für Dienstleistungen für ältere Menschen zu verstärken, wie Prof. Ye bereits erwähnt hatte.

 

Prof. Pantel stellte in seinem Vortrag „Psychogeriatrische Versorgung in Deutschland am Beispiel Demenz - Struktur und Herausforderungen“ dar, wie Deutschland versucht, mit der Demenzkranken umzugehen. Zunächst skizzierte er ebenfalls den Prozess des demografischen Wandels in Deutschland, wo Menschen über 65 Jahre mittlerweile circa 20 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen. Damit einher geht eine Zunahme „psychischer Störungen des alternden Menschens“ (Psychogeriatrie), die von einer Vielzahl öffentlicher und privater Einrichtungen, wie Allgemeinmedizinern oder Tageskliniken, behandelt werden.

1988 wurde die Unterstützung mit der Etablierung „Gerontopsychiatrischer Zentren“ (GPZ) schrittweise formalisiert. Ziel war es, dass ein solches GPZ für jeden der 403 deutschen Landkreise und kreisfreien Städte geschaffen wird., um so u.a. die gemeindebasierte, niederschwellige und personenzentrierte Versorgung zu gewährleisten und als „Motor“ für die bedarfsorientierte Entwicklung regionaler und quartiersbezogener Versorgungsstrukturen zu funktionieren. Zu diesem Zweck übernehmen die GPZ grundlegend vier Funktionen: Ambulanz, Tagesstätte, Beratungsstelle und Koordination.

Allerdings wurden damit natürlich nicht jegliche Probleme gelöst, vielmehr bestehen auch heute noch große Herausforderungen wie eine effektive Koordination und Kooperation zwischen den einzelnen Akteuren (Hausärzten, Pflegeheimen etc.). Zudem stellt auch der schiere Anstieg der Zahl der Patienten gepaart mit dem chronischen Fachkräftemangel eine Herausforderung dar. Vor allem für viele der insgesamt circa 1,7 Millionen Demenzkranken, von denen ungefähr 70 Prozent zu Hause leben, ergibt sich dadurch eine Unterversorgung. Aktuelle Prognosen gehen davon aus, dass 2050 sogar über 3 Millionen Demenzranke gibt, was die Dringlichkeit einer Lösung unterstreicht. Prof. Pantel empfiehlt unter anderem, einen besonderen Fokus auf die frühzeitige Diagnose zu legen. So erhalten Stand jetzt nur etwa 30 Prozent der Demenzpatienten eine bildgebende Untersuchung ihres Gehirns – obwohl sowohl nationale als auch internationale Leitlinien dies klar empfehlen. Auch mangelt es an der adäquaten Verschreibung psychotroper Medikamente, wobei hier starke regionale Unterschiede bestehen. Prof. Pantel zeigt sich zuversichtlich, im Allgemeinen ist eine Versorgung von Menschen mit Demenz auf relativ hohem Niveau möglich, aber es gibt viele Hindernisse, diese umzusetzen, wie zum Beispiel regionale Verfügbarkeiten oder Zugänglichkeiten. Auch müsse für adäquate stationäre Angebote (somatische Abteilungen), Schnittstellenmanagement und ambulante Betreuung zu sorgen.

Viel noch wichtiger ist allerdings festzustellen, dass die Diagnose Demenz heutzutage immer noch mit einem hohen Risiko sozialer Exklusion verbunden ist. Deshalb, so plädiert Prof. Pantel, müssen wir als Gesellschaft daran arbeiten, das öffentliche Bewusstsein zu sensibilisieren, um so schrittweise die Einstellung gegenüber Demenzkranken zu ändern. Natürlich ist dafür auch eine bessere Ausbildung und Qualifizierung unerlässlich.

Ein wichtiger Baustein auf diesem Weg ist zum Beispiel die vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und Bundesministerium für Gesundheit geförderte „Nationale Demenzstrategie“, die es sich zum Ziel setzt, „Strukturen zur gesellschaftlichen Teilhabe von Menschen mit Demenz an ihrem Lebensort aus- und aufzubauen.“ Zu den Ansätzen gehören die Förderung integrierter und inklusiver Quartiers-und Dorfentwicklungskonzepte, Demenzsensible öffentliche Begegnungs-und Verweilräume oder die Öffnung von Kultur-, Sport-und Bildungseinrichtungen für Menschen mit Demenz.

In seinem Vortrag „Die Kooperation zwischen professioneller Versorgung und bürgerschaftlichem Engagement: Zur Konzeption sorgender Gemeinschaften (auch in Zeiten der Digitalisierung)“ betonte Prof. Kruse erneut, wie wichtig es ist, die „sich sorgende Gemeinschaft“ in die Pflege älterer Menschen einzubeziehen.  Aus einer grundsätzlichen Perspektive betrachtet, forderte er eine ganz neue Art und Weise, wie wir über das Alter sprechen, da es ein „einheitliches“ eindimensionales Alter nicht gibt. Vielmehr unterscheidet es sich in der körperlichen, seelischen, kognitiven oder sozialen Dimension. Daher bedeutet „Alter“ in jeder Dimension etwas anderes und nicht nur - wie heute oft verstanden - lediglich den körperlichen Verfall. Viele Untersuchungen zeigen, dass junge Menschen in der Tat Freude daran haben, Zeit mit älteren Menschen, auch mit Demenzkranken, zu verbringen – eine wichtige Voraussetzung für die Schaffung einer sorgenden Gemeinschaft, die sich um die Älteren kümmert. Die von Konfuzius geprägte chinesische Gesellschaft ist in dieser multidimensionalen Betrachtung und Würdigung des Alters, bei dem das zurückliegende Leben nicht einfach vergessen wird, ein gutes Beispiel auch für Deutschland. 

Für die Pflege erfordert dies ein „Familienmodell“, das weiter über die (biologische) Herkunftsfamilie hinausgeht, sondern stattdessen vielmehr auch auf Solidarität basiert. Dafür gelte es, diese viel weitere Deutung des Alters und der Person auch medial und politisch noch stärker in die Öffentlichkeit zu bringen. Denn die Begleitung alter Menschen ist nicht nur ein Akt der Fürsorge, sondern auch ein großer persönlicher Gewinn für den Fürsorgenden. Zum Schluss formulierte Prof. Kruse drei wesentliche Erkenntnisse für den gesellschaftlichen Umgang mit dem Alter.

Erstens muss der Mensch bis zum Schluss davon überzeugt sein, dass er eine Aufgabe hat, dass er sein Leben in den Dienst etwas Größeren stellen kann („Aufgabencharakter des Lebens“). Zweitens muss eine Gegenseitigkeit (Reziprozität) in den Beziehungen zu anderen Menschen bestehen. Der alte Mensch ist nicht nur ein Objekt der Fürsorge, stattdessen solle man sich stets die Frage stellen: Was kann diese Person mir eigentlich geben?

Drittens gelte es auch im Alter nicht die neuronale Plastizität, also die Anpassung unserer Nervenzellen an neue Lernanforderungen, zu vernachlässigen. Das heißt, dass auch Menschen im hohen Alter noch neue Sachen lernen und diese im Alltag anwenden können. Forschungen haben gezeigt, dass selbst Demenzkranke noch in der Lage dazu sind, sich in neue Themen wie zum Beispiel die Nutzung eines Tablets „einzuarbeiten“. Alle Therapie und Rehabilitationsmaßnahmen sollten deshalb in Zusammenhang mit Bildungsaspekten durchgeführt werden.

Aus diesen Gründen fordert Prof. Kruse alle dazu auf, noch stärker klarzumachen, wie wichtig die gemeinschaftliche Pflege dazu beiträgt, das Gemeinwohl zu erhalten bzw. sogar zu stärken.

Autor: Ole Engelhardt