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Aufbau einer altenfreundlichen Gesellschaft und die Zukunft der Pflegeversicherung
Akademischer Austausch mit der Zentralen Parteihochschule

Am 8. Dezember 2020 organisierte die Hanns-Seidel-Stiftung (HSS) zusammen mit der Nationalen Verwaltungsakademie der Hochschule des Zentralkomitees der KP China (ZPH) einen akademischen Austausch per Videokonferenz, auf dem sich renommierte Wissenschaftler aus Deutschland und China über die unterschiedlichen Pflegesysteme in den beiden Ländern austauschten.

Genau wie Deutschland schon seit längerer Zeit steht China auch mehr und mehr vor dem Problem einer alternden Gesellschaft. In der chinesischen Tradition kommt normalerweise den Kindern eine wichtige Rolle bei der Pflege ihrer Eltern zu. Wegen des in den letzten Jahren rapide gestiegenen Urbanisierungsgrades und dendaherhäufig getrennten Wohnsituationen der Familienmitglieder ist dieses Modell jedoch oft nicht mehr realisierbar. Daher ist es auch in China unerlässlich, ein gut funktionierendes staatliches Altenpflegesystem aufzubauen. Inwiefern deutsche Lösungsansätze dabei auch für Chinas Weg hilfreich sind, war eine der Fragen, die die Experten auf der von Prof. Gong Weibin, Leiter der Abteilung für Soziale und Ökologische Zivilisation der ZPH, moderierten Konferenz diskutierten.

Prof. Gong Weibin von der Zentralen Parteihochschule hielt eine Eröffnungsrede beim Symposium am 08.12.2020

China will die richtigen Lehren aus Pilotprojekten ziehen

Prof. Ding Yuanzhu und Ass. Prof. Hu Wei von der Abteilung für Soziale und Ökologische Zivilisation der Nationalen Verwaltungsakademie der ZPH) gaben einen Überblick über die Herausforderungen, vor denen China derzeit steht, und wie bislang damit umgegangen wird. In seinem Vortrag „Die Entwicklung des chinesischen Pflegeversicherungssystems aus praktischer und politischer Perspektive“ skizzierte Prof. Ding zunächst die Ausgangslage. Gibt es derzeit noch circa 40 Millionen alte Menschen mit beeinträchtigter Selbständigkeit, werden es bis 2050 fast 100 Mio. sein. Allein von 2015 bis 2019 sind 30 Mio. neue über 60-jährige hinzugekommen (insg. 253 Mio.) – ihr Anteil entsprach im Jahr 2019 18% der Gesamtbevölkerung. Während es noch kein landesweit einheitliches Altenpflegesystem gibt, führen verschiedene Städte individuelle Pilotprojekte durch.

Die ostchinesische Küstenstadt Qingdao beispielsweise erließ 2012 „Stellungnahmen zur Einrichtung eines medizinischen Pflegeversicherungssystems (zur probeweisen Einführung)“ und errichtete 2015 ein Pflegeversicherungssystem auf Grundlage der städtischen Grundkrankenversicherung. Die Versicherung deckt alle Bürger ab, die von der städtischen Grundkrankenversicherung erfasst sind. Der Mechanismus finanziert sich weitgehend über Anpassungen der Struktur des allgemeinen Gesundheitsfonds und des persönlichen Kontos der Grundkrankenversicherung. Diese Art Pflegeversicherung deckt jene Versicherten ab, die durch Krankheit oder Verletzung Beeinträchtigungen erleiden, die zum Verlust ihrer Selbstständigkeit führen. Es gibt vier verschiedene Pflegeformen zu unterschiedlichen Kosten, die erprobt werden: a) häusliche Pflege mit medizinischer Unterstützung; b) stationäre Pflege in spezialisierter Pflegeeinrichtung; c) Expertenpflege im Krankenhaus; d) Pflege auf Rädern im ländlichen Raum. Bis 2018 haben bereits über 40.000 Senioren mit einem Durchschnittsalter von 80,4 Jahren von den Zahlungen profitiert. In der Stadt Nantong in der Provinz Jiangsu wird seit 2016 ein ähnliches Pilotprojekt durchgeführt. Die Finanzierung unterscheidet sich hier jedoch: 40% kommen von der Regierung und jeweils 30% von persönlichen Beiträgen und den Krankenkassen. In der Regel werden damit 60% der Kosten für die Pflegeleistungen in ausgewiesenen Pflegeeinrichtungen übernommen. Im selben Jahr zog auch der Hauptstadtbezirk Haidian nach und initiierte ein auf einer kommerziellen Versicherung basierendes Pilotprojekt. Hier stammt der jährliche Beitrag (1.140 RMB) in der Regel zu 80% vom Versicherten und zu 20% von der Regierung. Der Betrag muss 15 lang eingezahlt worden sein, bevor ein Leistungsanspruch besteht. Nach Vollendung des 65. Lebensjahrs können nach Einstufung als leicht, mittel oder schwer Beeinträchtigter monatlich 900, 1.400 bzw. 1.900 RMB ausgezahlt werden. Die drei Systeme haben jeweils ihre eigenen Besonderheiten. Im Unterschied zur Pflegeversicherung in Qingdao, die sich auf medizinische Leistungen beschränkt, umfassen die Leistungen in Nantong und Haidian beispielsweise auch Hilfen im Lebensalltag.

Auf Basis dergesammelten lokalen Erfahrungen veröffentlichte Chinas Ministerium für Personalressourcen und Soziale Sicherung im Juni 2016 die „Leitlinien zur Umsetzung von Pilotprojekten zum Pflegeversicherungssystem“. Darin wurden wichtige Punkte wie Leitideen, Grundprinzipien, Ziele, grundlegende politische Maßnahmen und Fragen der Organisation klar dargelegt.Anschließend wurden 15 Städte ausgewählt, in denen einheitlich koordinierte Pilotprojekte durchgeführt wurden. Auf diese Weise sollte während der Zeit des 13. Fünfjahresplans (2016-2020) der politische Rahmen einesnationalen Pflegeversicherungssystems weitgehend geschaffen werden.

Prof. Hu ergänzte in ihrem Vortrag „Überlegungen zu Modellen der häuslichen Pflege mit chinesischer Prägung“ die ausführliche Einführung mit weiteren Details. So ist China zwar bereits seit der Jahrhundertwende eine „Altersgesellschaft“, jedoch hat sich der Trend in den letzten Jahren noch einmal drastisch beschleunigt. 2050 könnten die Über-65-Jährigen in China bereits ein Drittel der Gesamtbevölkerung ausmachen. Parallel steigt auch die Zahl der Über-80-Jährigen, was insofern herausfordernd ist, da diese Altersgruppe im Durchschnitt nochmal ein 10% höheres Pflegebedürfnis hat. Daten der “China Longitudinal Aging Social Survey“ (CLASS) belegen, dass derzeit noch 70% der alten Menschen das traditionelle Modell der Pflege innerhalb der Familie bevorzugen. In rund 90% hängen Pflegebedürftige von ihrer Familie ab. Wie eingangs erwähnt, ist die familiäre Pflege aus unterschiedlichen Gründen – Urbanisierung, weniger Personen pro Haushalt etc. - jedoch immer häufiger nicht mehr realisierbar. In Peking spricht man derzeit von einem „9064“-System. Das heißt, dass weiterhin in 90% der Fälle die Pflege Zuhause erfolgt, in 6% das Wohnviertel die Pflege übernimmt und nur in 4% der Fälle Pflegeeinrichtungen übernehmen. Häusliche Pflegedienstleistungen werden als eine Form der Dienstleistung wahrgenommen, bei der Regierung und Gesellschaft mit Hilfe der Wohnviertel älteren Menschen in ihren Wohnungen tägliche Pflege, Haushaltsunterstützung, Rehabilitation und seelischen Trost bieten. Die häusliche Pflege mit chinesischer Prägung hat sich zum Ziel gesetzt, ein umfassendes, mehrstufiges System der sozialen Sicherheit zu schaffen, bei dem Familien bei der Ausfüllung ihrer Pflegefunktion unterstützt werden und ein altersgerechtes häusliches Wohnumfeld geschaffen wird. Der Kerngedanke dahinter ist, dass familiäre Pflege als reelle Arbeit und wichtige gesellschaftliche Aufgabe wahrgenommen und entsprechend honoriert wird. Daher sollen zum Beispiel Einkommenssteuerentlastungen, Pflegezuschüsse, Fortbildungskurse sowie Pflegeurlaub angeboten werden. Letzterer existiert in unterschiedlichen Formen bereits in vielen Provinzen. Zudem sollen auch die Wohnviertel, in denen alte Menschen wohnen, altersgerecht umgebaut werden.

Prof. Andreas Kruse setzt sich für einen stärkeren Dialog zwischen Deutschland und China zum Thema Altenpflege ein.

Deutschland: Größere Wertschätzung für die Pflegearbeit

Dr. Susanne Schmid, Leiterin des Referats Gesellschaftliche Entwicklung, Migration, Integration der Akademie für Politik und Zeitgeschehen der Hanns-Seidel-Stiftung, und Prof. Andreas Kruse vom Institut für Gerontologie an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg stellten anschließend die Eckpfeiler des deutschen Altenpflegesystems vor. In ihrem Vortrag „Die Zukunft der Pflegeversicherung vor dem Hintergrund der demographischen Alterung in Deutschland“ erklärte Dr. Schmid, dass Deutschland bereits seit längerem vor der Herausforderung einer alternden Bevölkerung steht. Ein wichtiger Grund dafür ist die abnehmende Geburtenziffer, die aktuell nur bei 1,54 liegt – im Vergleich zu fast 2,5 in den späten 1960er Jahren. Zudem hat sich auch die Lebenserwartung von Neugeborenen maßgeblich erhöht. Dr. Schmid stellte anschließend verschiedene Prognosen für die zukünftige demografische Entwicklung vor. Demnach ist es möglich, dass Menschen ab 80 Jahren im Jahr 2060 schon 11% der Gesamtbevölkerung ausmachen werden – derzeit sind es 7%. Dies hat unweigerlich Folgen für den Arbeitsmarkt, die Sozialsysteme sowie die öffentlichen Finanzen und die Bildung. Und natürlich wird auch das „Pflegebedürftigkeitsrisiko“ steigen, während – analog wie in China – die häusliche/familiäre Pflege immer weiter abnehmen wird. Deutschland hat auf die Herausforderung einer alternden Bevölkerung 1995 mit der verpflichtenden sozialen Pflegeversicherung reagiert, die aktuell über 71 Mio. Menschen abdeckt. Die Leistungen dieser Pflegeversicherung sind vielfältig und umfassen sowohl die ambulante und stationäre Pflege als auch alternative Wohnformen. Der Umfang der Leistungen orientiert sich an dem Pflegegrad, der von 1 bis 5 reicht.  Für die Zukunft sieht Dr. Schmid auch Deutschland mit vielen neuen Herausforderungen konfrontiert. Daher gilt es u.a., die ambulante und stationäre Pflege bedarfsgerecht weiterzuentwickeln. Verbesserte Arbeitsbedingen (inkl. Entlohnung) und die Schaffung neuer Pflegestellen sowie die Förderung des ehrenamtlichen Engagements stellen einen wichtigen Schritt in diese Richtung dar. Wie in China muss auch in Deutschland eine Pflegegerechtigkeit in allen Wohn- und Siedlungsbereichen gewährleistet werden. Hierzu müssen verstärkt auch digitale Mittel genutzt werden.

Prof. Kruse blickte in seinem Vortrag aus einer philosophischen Perspektive auf die Thematik. Er stimmte Dr. Schmid zu, dass ein wichtiger Baustein eine höhere Anerkennung und gerechtere Entlohnung des Pflegeberufs ist. Obwohl Deutschlands Pflegeversicherung weltweit immer noch sehr anerkannt ist, reicht sie häufig nicht mehr aus, um Familien in ihrer Pflege zu unterstützen. Daher werden die Fragen immer unausweichlicher: Wie sehr müssen die Beiträge erhöht werden? Wie kann man neue Pflegefachkräfte gewinnen? Dafür brauchen sie natürlich eine deutlich bessere Entlohnung. Es gilt, den großen Lohnabstand zwischen Medizin und Pflege zu verringern. Prof. Kruse machte deutlich, dass Fragen zum Pflegesystem unweigerlich das Verhältnis der unterschiedlichen Generationen betreffen. Denn ein Anstieg der Beiträge würde zwar – höchstwahrscheinlich – zu einer höheren Pflegequalität für die ältere Generation führen, gleichzeitig jedoch auch zu einer geringeren Kaufkraft der jüngeren beitragszahlenden Generation. Unmittelbar damit zusammen hängt auch die Frage: Wie lange sollen wir arbeiten? Muss das gesetzliche Renteneintrittsalter eventuell erhöht werden? Das hieße, dass die aktuelle Generation jetzt länger arbeiten müsste, um länger einzahlen zu können, und somit nachfolgende Generationen zu entlasten. Für Prof. Kruse ist es besonders wichtig, der jüngeren Generation bewusst zu machen, dass sie selbst einmal in einem solchen pflegebedürftigen Alter sein wird. Dieses Bewusstsein hilft, um Solidarität zwischen den Generationen zu schaffen. Diese spätere Lebensphase sollten jüngere Menschen daher stets mitbedenken. Eine wichtige Leitfrage, die sich jeder stellen sollte, lautet daher: Was würde das für mich bedeuten, wenn ich jetzt so alt wäre?

Autor: Ole Engelhardt